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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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man einräumen, dass er uneigennütziger kaum hätte handeln können. Aus moralischer Sicht ist alles in Ordnung. Doch diese Moral macht sich breit in Gestalt peinigender neurotischer Bedenklichkeiten, deren bloße Zahl den Ernst des ganzen Unternehmens in Frage stellt.
    Unleugbar trägt Kafkas Heiratsantrag den Makel einer bizarren Komik, vergleichbar den gewissenhaften Übungen eines Trockenschwimmers. Heillos klaffen Form und Inhalt auseinander. Kafka begreift, dass er sich einer sozialen Schablone anbequemen muss, der Form des Antrags: » … deshalb frage ich also … « Dieser Antrag jedoch enthält ein ›Begehren‹, über das nur im dunkelsten Kern eines Menschen entschieden werden kann. Er wird es wenig später ausdrücklich bekräftigen: »nur um Innerstes kann es sich handeln, wenn wir zusammen leben wollen«, schreibt er. »Die Richtung und das Urteil dafür muss jeder von uns in sich finden.« [305]   Erneut bezieht Kafka hier die radikalste Position eines ›romantischen‹ Liebesideals, das die Verbindung von Mann und Frau in reiner Innerlichkeit zu verankern sucht. Welchen Wert hätte dann aber ein ›Antrag‹, in dem dieses Innerste nicht vorkommen darf? Und kann es überhaupt ein ›Formular‹ geben, auf dem Platz wäre für dieses Innerste? Kafka schafft sich diesen Platz. Wie jemand, der in der Rubrik ›geb.‹ nicht bloß sein Geburtsdatum einträgt, sondern darüber hinaus noch den Grund, den Verlauf und die Umstände der Geburt. Ebenso komisch, und ebenso wahrhaftig.
    Natürlich ist diese Wahrhaftigkeit bezweifelt worden. Allzu nahe liegt der Einwand, Kafka habe – unbewusst, halbbewusst – eine Ablehnung herbeireden wollen, um den aus eigener Kraft offenbar nicht zu entscheidenden Kampf zwischen Ehe und Literatur durch ein Machtwort von außen endlich zu beenden. Das ist richtig, aber falsch, möchte man antworten. Denn ein formelles Nein, das wohl gleichbedeutend mit dem Abbruch der Beziehung gewesen wäre, hätte ihn in Verzweiflung gestürzt – daran kann es angesichts der libidinösen Abhängigkeit, {344} in die er sich begeben hatte, keinen Zweifel geben. Er wollte angenommen werden, aber als der, der er war, in voller Bewusstheit und aus innerster Notwendigkeit. Was er aber vor allem ersehnte, und was allein ihn glücklich gemacht hätte, war ein Aufschub – freilich nicht, wie schon seit Monaten, als eine unsichtbaren Gesetzen unterworfene Hemmung, die niemand verstand, nicht einmal er selbst, und die infolgedessen auch von Felice bestenfalls mit Achselzucken, wahrscheinlicher aber mit wachsendem Überdruss beobachtet wurde. Nein, einen einvernehmlichen Aufschub wünschte er sich, ein mit Einsicht und daher unter Wahrung seiner Würde gewährtes Moratorium. ›Lass uns mit allem warten, bis Du wieder schreiben kannst – und in der Zwischenzeit machen wir gemeinsam Sommerferien.‹ Warum konnte Felice nicht diesen Satz aussprechen? Weil sie nicht verstand, dass Kafka zugleich noch eine andere Entscheidung erwartete, eine Entscheidung, für die es keine Muster, keine Formulare, keine Anträge gab.
»Die ungeheuere Welt, die ich im Kopfe habe. Aber wie mich befreien und sie befreien ohne zu zerreissen. Und tausendmal lieber zerreissen, als sie in mir zurückhalten oder begraben. Dazu bin ich ja hier, das ist mir ganz klar.«
    Dies notiert Kafka im Tagebuch, nur wenige Tage nach seinem Antrag, und es ist ihm so wichtig, dass er es noch am selben Tag öffentlich macht: »dass nämlich das Schreiben mein eigentliches gutes Wesen ist. … Hätte ich dies nicht, diese Welt im Kopf, die befreit sein will, ich hätte mich nie an den Gedanken gewagt, Dich bekommen zu wollen.« [306]   Das überraschende und in dieser Eindeutigkeit ganz neue Bekenntnis einer Berufung. Zehn Jahre zuvor hatte er noch beinahe das Gegenteil behauptet, augenzwinkernd in allem Unglück: »Gott will nicht, dass ich schreibe, ich aber, ich muß« [307]   . Wahrhaftig, ein weiter Weg war es von dort. Plötzlich war er sicher: Er hatte den Auftrag. Wo aber waren die Kräfte, ihn auszuführen? Wie weit lag sie zurück, die eine durchschriebene Nacht? Kafka horchte nach innen.

    Da sagte Felice Ja . Keine zwei Tage hatte sie dazu gebraucht, zwei Tage, in denen unter Kafka der Boden schwankte. Jetzt hörte er dieses Ja wie im Traum. Wusste sie denn, was sie tat? Nein, sie wusste es nicht. Sie verstand den Antrag und überlas die Fußnoten. Freilich, was er über seine Gesundheit schrieb, machte sie nun doch

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