Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
die eigenen erinnerten, dort fühlte er sich wohler, ja gesünder, und das sah man ihm an. Seine Offenheit wiederum erweckte Vertrauen; wo er sich nicht geradezu willentlich ausschloss, war er alsbald ›beliebt‹, man merkte, dass er gern zuhörte, und die Menschen begannen zu erzählen. So auch in der Gärtnerei.
»Die Geschichte der Gärtnerstochter, die mich vorgestern in der Arbeit unterbrach. Ich, der ich durch die Arbeit meine Neurasthenie heilen will, muss hören, dass der Bruder des Fräulein, er hat Jan geheissen und war der eigentliche Gärtner und voraussichtlicher Nachfolger des alten Dvorsky, ja sogar schon Besitzer des Blumengartens sich vor 2 Monaten im Alter von 28 Jahren aus Melancholie vergiftet hat. Im Sommer war ihm verhältnismässig wohl trotz seiner einsiedlerischen Natur, da er wenigstens mit den Kunden verkehren musste, im Winter dagegen war er ganz verschlossen. Seine Geliebte war eine Beamtin – uřednice – ein gleichfalls melancholisches Mädchen. Sie giengen zusammen oft auf den Friedhof.« [277]
Ein anderer hatte dort gestanden, wo Kafka jetzt stand, beinahe gleichaltrig, ein Schatten, ein Spiegelbild, er hatte dasselbe Werkzeug in Händen gehalten, und vielleicht durfte Kafka nur darum hier arbeiten und plaudern, weil jener andere nicht mehr hier arbeiten und plaudern konnte, weil er keinen Sinn mehr darin gesehen hatte, in der Erde zu wühlen, während er, Kafka, mit dummem Stolz seinen Schweiß vergoss, um etwas Nützliches zu tun, das ihn heilen sollte, etwas Nützliches, vor dem jener andere längst geflohen war. Ja, auch er hatte ›hinaus‹ gewollt. Es war entsetzlich.
Was Kafka antwortete; ob er ein wenig früher nach Hause fuhr diesmal; ob er am nächsten Tag wiederkam; ob er überhaupt noch Lust verspürte fortzusetzen, was er mit halber Hoffnung begonnen hatte – wir wissen es nicht. Die Gärterei Dvorský in Nusle erwähnte er niemals mehr.
{335} Der Antrag
Ein neues Blatt darf ich nicht nehmen, sonst ging es ins Unendliche fort …
Goethe an Amalie von Levetzow
Klein, knochig, verschlossen, mit schmalen, verkniffenen Lippen, aufgerichtet wie ein Stock, der Oberkörper geschnürt, die Mitte bewehrt von einer riesigen Gürtelschnalle – als beinahe unglaubhafte Karikatur einer Schwiegermutter erscheint Anna Bauer auf dem einzigen Foto, das sich aus der Vorkriegszeit von ihr erhalten hat. Sie ist die Kleinste der vielköpfigen Familie, die sich zur Gruppenaufnahme an einem Strand versammelt hat, und doch beherrscht sie alle, selbst die neben ihr strahlend lächelnde Felice, die mit ihrem riesigen Modehut sichtlich schon einer anderen Welt zugehört und die dennoch nicht ankommt gegen den streng in die Kamera blickenden Wachtposten an ihrer Seite, auch wenn sie ihn um die Taille fasst.
Diesem ›Drachen‹ – wie man damals unbefangen sagte – stand Kafka erstmals am Pfingstsonntag 1913 gegenüber. Verbeugung war obligatorisch, der Blumenstrauß abgesprochen. Sie blieb steif, beobachtend. Sie wusste genug über ihn, viel mehr als er über sie. Ein mittlerer Beamter, ein Schriftsteller, beides mit mäßigen Aussichten, und überdies meschugge. Warum gerade der ? Ein gewiefter Schadchen hätte der tüchtigen Felice ganz andere Chancen eröffnet. Das Mädchen war fünfundzwanzig Jahre alt, vollreif, im besten und begehrtesten Heiratsalter. Sie konnte selbständig wirtschaften und brachte Erspartes mit in die Ehe. Eine Perle auf dem jüdischen Heiratsmarkt. Aber diese Zeiten waren ja wohl vorbei. Felice war eben ein Dickschädel, und einmal sogar hatte sie die widerstrebende Mutter dazu genötigt, dem Prager Bewerber ein Zeichen zu senden. »Gruß Frau A. Bauer« las Kafka am 4.Februar auf einer Postkarte der Geliebten. Das war hart an der Frostgrenze.
Hätte er die Wahl gehabt, er hätte für seinen Antrittsbesuch bei den {336} Bauers sicherlich jedes andere Wochenende vorgezogen. Denn die Familie, und vor allem die rastlose Felice, war mit anderem beschäftigt: Ferdinand, vulgo ›Ferri‹, der verwöhnte Bruder und Sohn des Hauses, verlobte sich mit der Tochter seines Chefs, und aus diesem Anlass fanden in beiden Wohnungen ›Empfangstage‹ statt, an denen das neue Paar den Verwandten und Freunden präsentiert wurde. Hielt sich Kafka von diesen Empfängen fern, so bestand kaum Hoffnung, dass er Felice länger als ein, zwei Stunden zu Gesicht bekam; nahm er daran teil, so musste er Menschen beglückwünschen, die er im selben Augenblick erst kennen lernte,
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