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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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zu schweigen davon, dass es keine Konvention gab, mit der die Bauers seine Anwesenheit hätten erklären können. Doch wieder einmal bewährte sich die soziale Sorglosigkeit Felices, kleine Formfehler schreckten sie nicht im mindesten, und so kam es, dass auch der viel umständlichere Kafka – der allen Ernstes erwog, in Berlin im schwarzen Anzug aufzutreten – seine Bedenklichkeiten schließlich überwand und ihre Einladung annahm.
    Die Wohnung in der Emmanuelkirchstraße, Schauplatz so vieler seiner Tagträume, bekam er freilich nicht zu sehen. Es gab sie nicht mehr, denn die Bauers hatten sich ›verbessert‹ und wohnten seit einigen Wochen in der Wilmersdorfer Straße im bürgerlichen Charlottenburg. Kafka konnte das nur recht sein, für ihn zählten jetzt andere Kriterien, allen voran die geringere Entfernung zum ›Askanischen Hof‹, an den er nun einmal gewöhnt war. Die neue Einrichtung der Wohnung, die wahrscheinlich zu Ferris Verlobung erstmals stolz präsentiert wurde, hat er wohl kaum wahrgenommen. Denn er hatte Angst.
    Es war sein erster sichtbarer, handgreiflicher Vorstoß in Felices private Welt, sein erster Auftritt, und das Gefühl des Bühnenhaften, der übergestülpten Rolle bedrängte und knebelte ihn. Der Kommentar, den er noch ganz unter dem Bann des Ereignisses liefert, vermittelt gar den Eindruck, als habe er sich in eine expressionistische Kulisse verirrt:
»Wie geht es Deiner Familie? Ich habe einen so verworrenen Eindruck von ihr, es liegt vielleicht daran, dass mir die Familie so sehr den Anblick vollständiger Resignation in Bezug auf mich dargeboten hat. Ich fühlte mich so klein und alle standen so riesengross um mich herum mit so einem fatalistischen Zug im Gesicht (bis auf Deine Schwester Erna, der ich mich gleich näher fühlte). Das entsprach alles den Verhältnissen, sie besassen Dich und waren deshalb gross, ich besass Dich nicht und war deshalb klein, aber so sah ich es doch bloss an, sie doch nicht, wie kamen sie also zu diesem Verhalten, das {337} trotz aller Liebenswürdigkeit und Gastfreundschaft sie beherrschte. Ich muss einen sehr hässlichen Eindruck auf sie gemacht haben, ich will nichts darüber wissen; nur was Deine Schwester Erna gesagt hat, möchte ich wissen, auch wenn es sehr kritisch oder boshaft war. Willst Du mir das sagen?« [297]  
    Er, der mit seinen 182 Zentimetern alle überragt … »riesengroß« stehen sie um ihn herum: Wieder einmal balanciert Kafka auf dem schmalen Grat zwischen projektiver Halluzination und sozialer Empathie. Dass Erna nicht ganz dazugehört, dass sie weicher ist als die anderen, nachgiebiger, liebebedürftiger, das erkennt er auf den ersten Blick (auch wenn er nicht wissen kann, dass dies alles seine genaue Ursache hat, dass sie erst zwei Wochen zuvor, verborgen vor allen Verwandten, ihre Tochter Eva zur Welt brachte). Geht es hingegen um seine eigene Position, verschattet sich dieser Blick, wendet sich nach innen, und die formelle Verlegenheit, die sich in den Gesichtern spiegelt, empfängt er als gültiges Urteil.
    Freilich, die Bauers wussten nicht recht wohin mit dem verlegen lächelnden Mann. Ferri war doch heute der Mittelpunkt, und die allgemeine Erleichterung darüber, dass dieser Filou endlich sichere Gewässer ansteuerte, erzeugte wenig Neigung, sich schon gleich mit dem nächsten, ungleich komplizierteren Fall zu beschäftigen. Peinlich muss es für Kafka gewesen sein – auch wenn er darüber schweigt –, ausgerechnet heute mit einem frisch Verlobten konfrontiert zu sein, der von seinen künftigen Schwiegereltern kaum weniger umschmeichelt wurde als von der eigenen Familie, und diese sonderbare soziale Spiegelung – bei der gleichsam der eine die Sehnsucht des anderen verkörperte – wird wohl auch den Bauers nicht ganz entgangen sein.
    Dazu trat noch ein anderes, schwerer einzuschätzendes Moment: Man hatte einen überaus Gebildeten an der Tafel, einen Schriftsteller, der sich nicht ›gewählt‹, aber doch, bei aller Zurückhaltung, originell und feinsinnig ausdrückte, einen Mann, dessen Name auch schon im Berliner Tageblatt zu lesen war, dessen zweites Buch im Druck war und der sich, wie man hörte, mit Leuten duzte, die geradezu in Mode waren. Ganz ohne Eindruck konnte das nicht bleiben in einer Familie, die den Vorbildern des urbanen Bürgertums nacheiferte, die sich jedoch, nach ihrer Übersiedelung aus der schlesischen Provinz, mit allenfalls flickenhafter Bildung kulturell nachsozialisiert hatte. Was

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