Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
so glaubt er, entweder tödlich wirkt oder das Wunder der Heilung bringt.
»Mein ganzes Wesen ist auf Litteratur gerichtet, diese Richtung habe ich bis zu meinem 30ten Jahr genau festgehalten; wenn ich sie einmal verlasse, lebe ich eben nicht mehr. Alles was ich bin und nicht bin, folgert daraus. Ich bin schweigsam, ungesellig, verdrossen, eigennützig, hypochondrisch und tatsächlich kränklich. Ich beklage im Grunde nichts von alledem, es ist der irdische Widerschein höherer Notwendigkeit. (Was ich wirklich kann, steht hier natürlich nicht in Frage, hat keinen Zusammenhang damit.) Ich lebe in meiner Familie, unter den besten liebevollsten Menschen fremder als ein Fremder. {363} Mit meiner Mutter habe ich in den letzten Jahren durchschnittlich nicht zwanzig Worte täglich gesprochen, mit meinem Vater kaum jemals mehr als Grussworte gewechselt. Mit meinen verheirateten Schwestern und den Schwägern spreche ich gar nicht, ohne etwa mit ihnen böse zu sein. Für die Familie fehlt mir jeder mitlebende Sinn.
Neben einem solchen Menschen soll Ihre Tochter leben können, deren Natur, als die eines gesunden Mädchens, sie zu einem wirklichen Eheglück vorherbestimmt hat? Sie soll es ertragen, ein klösterliches Leben neben einem Mann zu führen, der sie zwar lieb hat, wie er niemals einen andern lieb haben kann, der aber kraft seiner unabänderlichen Bestimmung die meiste Zeit in seinem Zimmer steckt oder gar allein herumwandert? Sie soll es ertragen, gänzlich abgetrennt von ihren Eltern und Verwandten und fast von jedem andern Verkehr hinzuleben, denn anders könnte ich, der ich meine Wohnung selbst vor meinem besten Freunde am liebsten zusperren würde, ein eheliches Zusammenleben mir gar nicht denken. Und das würde sie ertragen? Und wofür? Etwa für meine in ihren und vielleicht selbst in meinen Augen höchst fragwürdige Litteratur? Dafür sollte sie allein in einer fremden Stadt in einer Ehe leben, die vielleicht eher Liebe und Freundschaft als wirkliche Ehe wäre.
Ich habe das Wenigste von dem gesagt, was ich sagen wollte. Vor allem: entschuldigen wollte ich nichts. Zwischen Ihrer Tochter und mir allein war keine Lösung möglich, dazu liebe ich sie zu sehr und sie gibt sich zu wenig Rechenschaft und will vielleicht auch nur aus Mitleid das Unmögliche, so sehr sie es leugnet. Nun sind wir zudritt, urteilen Sie!« [324]
Hatte Kafka es nicht ausdrücklich abgelehnt, sich ›hinter ihren Vater zu stecken‹, hatte er nicht immer darauf gepocht, die Eltern stünden außerhalb solcher Lebensentscheidungen ihrer Kinder? Im Grunde war das auch Felices Meinung, und in diesem entscheidenden Augenblick hielt sie sich daran, konsequenter als ihr Bräutigam: Sie las seinen Brief, doch sie reichte ihn nicht weiter und ersparte dem schwachen Vater die Verlegenheit, einen solchen Ausbruch verlegengütig beantworten zu müssen. Stattdessen versuchte sie, Kafka zu beruhigen, schlug eine Aussprache vor, zu zweit, fern den Eltern. Sie ließ ein Telegramm folgen, in ahnungsvoller Furcht.
Es war zu spät. Am 2.September teilte ihr Kafka mit, er könne sich »nicht frei machen« – weder von seiner Angst, noch von der »Lust, für das Schreiben auf das grösste menschliche Glück zu verzichten«. Und auch sie müsse endlich einmal zur Ruhe kommen. Er werde nach Wien fahren, dort an einem Fachkongress teilnehmen, danach seinen Urlaub antreten und weiter nach Süden reisen. Briefe werde sie vorläufig nicht mehr bekommen, allenfalls ein paar Zettel mit Reisenotizen. {364} Und auch sie solle »nur in einem äußersten Fall« schreiben. Danach werde man sich treffen, wo immer sie wolle.
Und diesmal war es ernst, nichts nahm er zurück. Drei Tage blieb er noch in Prag, schweigend, dann reiste er ab.
Einmal – wir wissen nicht, wann es geschah, es könnte aber sehr wohl im Herbst 1913 gewesen sein – schlug Felice Bauer mit der Stirn auf den Küchentisch. »Was mach’ ich nur mit dem Franz?«, rief sie gequält. [325] Eine Antwort wüsste man auch heute nicht.
{395} Drei Kongresse in Wien
Ich wollte nie an den Haupttisch, dort kann man nicht beobachten – dort wird man beobachtet.
Robert Gernhardt
Im Mai fuhr Kafka zu seiner Braut nach Berlin. Im Eisenbahncoupé ihm gegenüber saß Otto Pick. Im Café Josty trafen sie Carl und Albert Ehrenstein.
Nun war Anfang September. Kafka floh vor seiner Braut nach Wien. Im Eisenbahncoupé ihm gegenüber saß Otto Pick. In Wien-Ottakring besuchten sie Albert Ehrenstein.
Eine
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