Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
nützlich wäre? Es wäre ein leeres, verschwendetes Leben. Das geht nicht. Und darum heiratete der Gentleman noch im selben Jahr, um ein hoch geachtetes, außerordentlich nützliches, von einer sanften Frau, zahlreichen Kindern, Verwandten und Bediensteten bevölkertes Leben zu führen. Charles Darwin war sein Name. [319]
Ein Dreivierteljahrhundert später sind die beiden Stimmen, die im Kopf des bürgerlichen Mannes einander beständig ins Wort fallen, noch immer die gleichen. Doch sie sind unsicherer geworden, brüchiger. Längst kann niemand mehr sagen (und darum sagt jeder etwas anderes), wie ein nützliches, sinnvolles Leben denn eigentlich zu führen sei. Und hinter dem Charme weiblichen Geplauders lauert sexuelles Begehren, Auflösung, Angst. Als Kafka am 21.Juli 1913 sein Tagebuch aufschlägt, um endlich Ordnung zu bringen in das wimmelnde Für und Wider, um endlich fähig zu werden zu der einen Entscheidung, die alle von ihm erwarten und die er am liebsten aus sich herauspeitschen würde – da zeigt sich erneut, dass die Ehe so wenig zu begründen ist wie das Leben selbst. Denn Hoffnungen sind es, nichts als vage Hoffnungen, die dem Bleigewicht der Tatsachen entgegenstehen.
»Zusammenstellung alles dessen, was für und gegen meine Heirat spricht:
1. Unfähigkeit allein das Leben zu ertragen, nicht etwa Unfähigkeit zu leben, ganz im Gegenteil, es ist sogar unwahrscheinlich, dass ich es verstehe, mit jemandem zu leben, aber unfähig bin ich den Ansturm meines eigenen Lebens, die Anforderungen meiner eigenen Person, den Angriff der Zeit und des Alters, den vagen Andrang der Schreiblust, die Schlaflosigkeit, die Nähe des Irreseins – alles dies allein zu ertragen bin ich unfähig. Vielleicht, füge ich natürlich hinzu. Die Verbindung mit F. wird meiner Existenz mehr Widerstandskraft geben.
2. Alles gibt mir gleich zu denken. Jeder Witz im Witzblatt, die Erinnerung an Flaubert und Grillparzer, der Anblick der Nachthemden auf den für die Nacht vorbereiteten Betten meiner Eltern, Maxens Ehe. Gestern sagte meine Schwester: ›Alle Verheirateten (unserer Bekanntschaft) sind glücklich, ich begreife es nicht‹ auch dieser Ausspruch gab mir zu denken, ich bekam wieder Angst.
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3. Ich muss viel allein sein. Was ich geleistet habe, ist nur ein Erfolg des Alleinseins.
4. Alles was sich nicht auf Litteratur bezieht, hasse ich, es langweilt mich Gespräche zu führen (selbst wenn sie sich auf Litteratur beziehn) es langweilt mich Besuche zu machen, Leiden und Freuden meiner Verwandten langweilen mich in die Seele hinein. Gespräche nehmen allem was ich denke die Wichtigkeit, den Ernst, die Wahrheit.
5. Die Angst vor der Verbindung, dem Hinüberfliessen. Dann bin ich nie mehr allein.
6. Ich bin vor meinen Schwestern, besonders früher war es so, oft ein ganz anderer Mensch gewesen, als vor andern Leuten. Furchtlos, blossgestellt, mächtig, überraschend, ergriffen wie sonst nur beim Schreiben. Wenn ich es durch Vermittlung meiner Frau vor allen sein könnte! Wäre es dann aber nicht dem Schreiben entzogen? Nur das nicht, nur das nicht!
7. Allein könnte ich vielleicht einmal meinen Posten wirklich aufgeben. Verheiratet wird es nie möglich sein.« [320]
Eine Melodie, die man wiedererkennt: die Angst vor der Verantwortung; der Nachhall eines puritanischen Arbeitsethos; der Widerwille gegen den Brotberuf; und schließlich die Gewissheit, dass Bücher wichtiger sind als Verwandte (inklusive der Gewissheit, dass keiner Frau dies jemals einleuchten wird). Doch all das klingt bei Kafka weitaus angestrengter, gleichsam um eine Oktave höher gestimmt: Hier geht es nicht mehr um Bequemlichkeiten, bedrohte Gewohnheiten und unangenehme Pflichten – es geht um die Rettung von Identität und damit um Leben und Tod im buchstäblichen Sinne. Dann bin ich nie mehr allein, lautet der entscheidende Satz, und das bezieht sich längst nicht mehr nur auf Familienbesuche und die Forderungen und ›Rechte‹ von Frau und Kindern. Dann bin ich nie mehr bei mir, sagt jener Satz. Dann bin Ich nie mehr Ich.
Kafkas Erwartung, mit der Ehe breche etwas Ungeheuerliches, ja eigentlich Unmögliches über ihn herein, ist nur zu verstehen, wenn man das Ausmaß der Idealisierungen erfasst, mit denen er das Angsterregende längst umstellt hat. So behauptet er am 16.Juni – im selben Brief, in dem er Felice bittet, seine Frau zu werden –, für eine Ehe sei »Übereinstimmung in Bildung, in Kenntnissen, in höheren Bestrebungen und
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