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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Auffassungen … fast unmöglich, zweitens nebensächlich und drittens nicht einmal gut und wünschenswert«. Vielmehr: {361}
»Was eine Ehe verlangt, ist menschliche Übereinstimmung, also Übereinstimmung noch tief unter allen Meinungen, also eine Übereinstimmung, die nicht zu überprüfen, sondern nur zu fühlen ist, also eine Notwendigkeit menschlichen Beisammenseins. Dadurch wird aber die Freiheit des einzelnen nicht im Geringsten gestört, die wird eben nur gestört durch das nicht notwendige menschliche Beisammensein, aus dem der grösste Teil unseres Lebens besteht.«
    Dieses Ideal höherer Notwendigkeit zerschellt, sobald es den Boden der Wirklichkeit berührt – das heißt, im selben Augenblick, da Felice Ja sagt. Denn das gedachte Ideal wärmt, das gelebte Ideal aber will verdient und bewältigt sein. Was einst Schutz war, ist jetzt Forderung. Und damit tritt die Angst, der an Freiheit wenig gelegen ist, wiederum nackt zutage.
»Ich habe das bestimmte Gefühl, durch die Ehe, durch die Verbindung, durch die Auflösung dieses Nichtigen, das ich bin, zugrundezugehn und nicht allein sondern mit meiner Frau und je mehr ich sie liebe, desto schneller und schrecklicher.« [321]  
    Kafka organisiert jetzt die Verteidigung, und mit zäher Energie gräbt er sich förmlich ein gegen den drohenden Ansturm. Das Arsenal rhetorischer Waffen, das er auffährt, ist verblüffend; ein erbaulicher Anblick ist es freilich nicht, und angesichts der Quälereien, die im Sommer 1913 einen furchtbaren Höhepunkt erreichen, drängt sich dem Zuschauer das Bild eines in Panik um sich beißenden Tieres auf. Neu ist vor allem, dass Kafka sich nicht mehr nur als nichtigen, sondern als unerträglichen Menschen zeichnet, und dies in umso aggressiverer Form, je tiefer sich Felice imaginativ auf die Ehe einlässt. Weniger ein gemeinsames als vielmehr ein freudloses, einsames Leben werde es sein mit einem Menschen wie ihm. Ob sie sich das alles genau überlegt habe, fragt er wieder und wieder. Ob es nicht nur Mitleid sei, das sie für ihn empfinde. Ob sie begreife, worauf sie sich einlasse.
    Auch kleinen tyrannischen Impulsen lässt er jetzt die Zügel schießen. So fordert er sie auf, mit Turnübungen zu beginnen, nach dem beliebten Müllerschen System, dem er selbst seit Jahren die Treue hält. Ihren Einwand, das sei ihr zu langweilig, lässt er nicht gelten: »Auf dem Müllern bestehe ich durchaus, das Buch geht heute ab, wenn es Dir langweilig ist, so machst Du es nicht gut«. Auch über die künftige Ernährung ist längst entschieden: »ich glaube doch, dass unsere Wirtschaft {362} eine vegetarische sein wird, oder nicht?« [322]   Vor allem aber die Unpünktlichkeit ihrer Briefe, zunehmend auch deren unpersönliche, flüchtige Diktion, sind Gegenstand fortwährender Klagen, und am 8.August lässt Kafka sich erstmals zu einem Brief hinreißen, der vom ersten bis zum letzten Satz aus Vorwürfen besteht.
    Kafka leidet, und es ist durchaus keine Floskel, wenn er versichert, »ich leide noch viel mehr als ich leiden mache« [323]   . Er sehnt sich nach der Anwesenheit jener Frau, er sucht ihre Gegenwart in Fotografien, wie schon im Jahr zuvor, und je verschleierter die Erinnerung an die wenigen Begegnungen, desto konkreter der Gedanke, dass hier vielleicht doch noch Erlösung wartet. Aber die ersehnte Geste bleibt aus, die kühle Hand auf die Stirn, das Wort, das die intime, notwendige Zusammengehörigkeit besiegelt und die Angst besiegt. Ein Geschenk wäre diese Geste; darum kann man sie nicht fordern und erst recht nicht erzwingen. Kafka aber drängt, er kann nicht länger warten. Und damit entwertet er alles, was zu schenken Felice vielleicht noch bereit gewesen wäre.
    Am 28.August trifft ein freundlicher Brief von Carl Bauer ein. Felices Eltern stimmen der Heirat zu, ohne Vorbehalte, ohne erkennbare Zweifel. Auch sie scheinen das Verhängnis nicht zu begreifen, sie denken an Geld, Mitgift, Versorgung. Wieder liegt die Verantwortung allein bei Kafka, der zur Flucht schon beinahe entschlossen ist. Ihm bleibt ein allerletztes, schon bewährtes, freilich auch verzweifeltes Mittel: die Last abwerfen, die Entscheidung in andere Hände legen, in die Hände eines Curators. Kafka schreibt einen zweiten, persönlicheren Brief an Felices Vater, einen Brief, dessen entscheidende Sätze er sich im Tagebuch schon zurechtgelegt hat. Es ist die Wiederholung seines paradoxen Antrags an Felice, doch diesmal in konzentrierter Form, wie Gift, das,

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