Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
Vom Netzwerk:
groteske Spiegelung war es, die gleichsam seitenverkehrte Wiederholung einer Situation, von der sich Kafka einst ein neues Leben erhofft hatte. Bewusst geworden ist ihm das offenbar nicht – kein Wunder, hatte sich doch die ängstliche Erwartung mittlerweile zu einem bleiernen, Tag für Tag wiederkehrenden Angsttraum verdichtet, der ihm nicht nur die Luft zum Atmen, sondern auch die freie Sicht auf die eigene Existenz nahm.
    Kafka reiste zunächst als Beamter, denn er war auf dem Weg zur ersten (und einzigen) Großveranstaltung, an der er als offizieller Delegierter der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt teilnehmen sollte. Dieser ›II. Internationale Kongreß für Rettungswesen und Unfallverhütung‹, der am 9.September 1913 im Sitzungssaal des Wiener Abgeordnetenhauses eröffnet wurde, lag Kafka schon seit langem auf der Seele. Denn seine Vorgesetzten Pfohl und Marschner hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, zur Ausarbeitung auch für die Öffentlichkeit bestimmter Schriftstücke den ebenso kompetenten wie stilsicheren Dr.Kafka heranzuziehen, und so war ihm die Aufgabe ›zugefallen‹, die Vorträge zu verfassen, mit denen der Abteilungsleiter und der Direktor in Wien zu glänzen gedachten. Da diese Vorträge natürlich auch im Druck erschienen, waren sie schon Monate vor der Veranstaltung {396} abzuliefern – mit der Folge, dass Kafka bereits im April Statistiken wälzte und Fachpublikationen exzerpierte. Es war derselbe ereignisreiche Monat, in dem er in der Gärtnerei Dvorský wütend den Spaten in die Erde stieß, während Felice in Frankfurt wie verschollen war; derselbe Monat, in dem er, wenige Tage vor Abgabe der Vortragsmanuskripte, in der Nacht auch noch die Druckfahnen des HEIZERS Korrektur zu lesen hatte. Offenbar beendete Kafka sein ghostwriting erst im letztmöglichen Augenblick, und es ist unwahrscheinlich, dass seinen Vorgesetzten Zeit blieb, in ihren Redetexten noch ein paar eigene Gedanken unterzubringen.
    Nun war freilich ein Fachkongress mit mehr als 3000 Delegierten, Funktionären und Zuhörern das Letzte, woran sich Kafka im Herbst 1913 hätte begeistern können – tatsächlich interessierte ihn die ganze Veranstaltung so wenig, dass er noch wenige Tage vor Eröffnung nicht einmal deren Titel korrekt wiedergeben konnte. [366]   Vermutlich war seine Teilnahme als eine Art von Belohnung gedacht, an Ablehnung daher gar nicht zu denken. Immerhin gelang es ihm, die gemeinsame Zugreise mit den beiden Vorgesetzten zu vermeiden; stattdessen schloss er sich schon einige Tage zuvor Otto Pick an, der wieder einmal im Dienst literarischer Kontakte unterwegs war. Das brachte – auf Kosten nur eines Urlaubstages – ein freies Wochenende in Wien ein. Danach plante Kafka, einen Zug nach Italien zu besteigen, um seinen jährlichen Urlaub anzutreten, und vielleicht würde Pick ihn begleiten. Nun, darüber konnte man später sprechen. Nur weg von Prag jetzt.
    Doch besser wäre er allein gereist. Denn die neuesten Nachrichten aus der Szene , mit denen Pick ihn auch damals während der Fahrt nach Berlin präpariert hatte und die Kafka wie einen verheißungsvollen, warmen Regen über sich hatte ergehen lassen, erschienen ihm jetzt seicht wie eine Pfütze. »Dummes Litteraturgeschwätz mit Pick«, notierte er. »Ziemlicher Widerwillen. So (wie P.) hängt man an der Kugel der Litteratur und kann nicht los, weil man die Fingernägel hineingebohrt hat, im übrigen aber ist man ein freier Mann und zappelt mit den Beinen zum Erbarmen.« [367]   Pick hatte, mit anderen Worten, literarische Interessen , sein Gerede evozierte genau jenes Bild des Hobbyliteraten und Literaturvertreters, das Kafka erst wenige Tage zuvor gegenüber Felice entrüstet zurückgewiesen hatte. Ich bin Literatur . Pick hingegen hätte sich, um seinem Leben Halt zu geben, ebenso gut {397} woanders ›einbohren‹ können. Stellt man in Rechnung, dass diese abfälligen Bemerkungen zu ebenjenen Notizen gehörten, die er Felice von der Reise ab und an zu senden versprochen hatte – anstelle von Briefen –, so wird begreiflich, woher die Schärfe rührt.
    Doch Kafka stand jetzt nicht der Sinn nach Gerechtigkeit, und Pick, der sich auf die ausgeprägten Gewohnheiten, Idiosynkrasien und Launen seines Begleiters erst einmal einzustellen hatte, wurde nichts geschenkt. »Er tyrannisiert mich, indem er behauptet, ich tyrannisiere ihn«, notierte Kafka vielsagend. Am Abend des 6.September etablierten sich die beiden in einem

Weitere Kostenlose Bücher