Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Wirklichkeit: Beide wärmen sich an Phantasien, und auch Felice gerät jetzt ins Träumen beim Anblick flanierender glücklicher Paare. Doch die Ernüchterung fürchtet sie ebenso wie Kafka, und die Anstrengung der ersten Wiederbegegnung liegt noch nicht so weit zurück, dass man sie völlig verdrängen könnte. Jeder Knoten ist lösbar – das hat man ihr beigebracht, und daran glaubt sie. Ein Gespinst aber aus so vielen Träumen und so wenig Wirklichkeit?
Doch gerade jetzt entschloss sich die Familie Bauer, dem Unvermeidlichen ins Auge zu sehen. Kafkas offizielles Bewerbungsschreiben, seit langem gefürchtet, war Mitte August bei ihnen eingegangen. Die üblichen Nachforschungen (auf denen vor allem die Mutter mit Macht bestanden haben dürfte) ergaben ein laues Resultat, allenfalls beruhigend, befriedigend keineswegs. Kaum war Felice von Sylt zurück – besonders erholt sah sie nicht aus, was niemanden mehr wunderte –, tagte auch in Berlin der Familienrat. Was sprach denn eigentlich für diesen Bewerber? Seine sonderbaren Briefe gewiss nicht, deren verrückt-zudringliche Anhäufung schon gar nicht, und auch sein Antrag enthielt wieder Formulierungen, die nicht viel Rücksicht nahmen auf das, was ein Brautvater bei solcher Gelegenheit zu hören wünscht. [317] Für den Unterhalt einer Familie war das Einkommen des Doktor Kafka knapp hinreichend, doch er war Beamter, kein Geschäftsmann, und daher würden sich seine ›Verhältnisse‹ wohl niemals grundlegend verbessern. Die Asbestfabrik, an der er beteiligt war, ohne sich weiter darum zu kümmern, war ein dubioses Hinterhof-Unternehmen, das nichts abwarf. Und die Eltern … nun, sie lebten anständig, aber sie mussten rechnen, ja sie hatten sogar, wie Kafka gegenüber Felice einräumte, all ihre materiellen Reserven für die Versorgung {358} der Töchter aufgewendet. Auch von dieser Seite war daher nicht viel zu erhoffen. Alles deutete auf Einschränkungen. Warum also, warum? Doch Felice, die seit nun schon einem Jahr allen Vorhaltungen trotzte, blieb standhaft auch im letzten, entscheidenden Verhör – bis endlich, endlich der Familienrat erlahmte und sein resigniertes Schlusswort sprach: ›Bleibt nur eine Neigungsheirat‹. [318]
Heiraten
Kinder (so Gott will). Ständige Gefährtin (und Freundin im Alter), die sich für einen interessiert. Jedenfalls besser als ein Hund. Eigenes Heim und jemand, der den Haushalt führt. Charme von Musik und weiblichem Geplauder. Diese Dinge gut für die Gesundheit – aber schreckliche Zeitverschwendung.
Mein Gott, es ist unerträglich, sich vorzustellen, dass man sein ganzes Leben lang wie eine geschlechtslose Arbeitsbiene nur schuftet und sonst nichts hat. Nein, nein, das geht nicht. Stell dir vor, den ganzen Tag allein in einem verrauchten, schmutzigen Londoner Haus zu verbringen. Halte das Bild einer lieben, sanften Frau auf einem Sofa am Kaminfeuer mit Büchern und Musik dagegen. Vergleiche diese Vision mit der schäbigen Realität der Great Marlborough Street.
Heiraten – heiraten – heiraten.
Q. E. D.
Nicht heiraten
Freiheit, hinzugehen, wo man will. Wahl der Gesellschaft, und wenig davon. Gespräche mit klugen Männern in Clubs. Nicht gezwungen, Verwandte zu besuchen und sich in jeder Kleinigkeit zu unterwerfen. Kosten für Kinder, Sorgen um sie. Vielleicht Streit. Zeitverlust. Keine Lektüre an den Abenden. Man wird fett und faul. Angst und Verantwortung. Weniger Geld für Bücher usw. Wenn viele Kinder, Notwendigkeit eines Brotberufs (dabei ist es sehr schlecht für die Gesundheit, zuviel zu arbeiten).
Vielleicht mag meine Frau London nicht; dann lautet das Urteil Verbannung und Degradierung zu einem nutzlosen, faulen Narren.
Die Stimme des kahlen hypochondrischen Verstandes; die Feder eines 29-jährigen, umfassend gebildeten und tierlieben englischen Gentleman. Aus dem Jahr 1838 stammen diese Notizen, aus einer Zeit, da noch niemand sich schämte, zu rechnen, ehe er heiratete. Er will ganz sichergehen, darum steht die Ökonomie im Vordergrund, die Analyse von Kosten und Ertrag. Doch während in der rechten Spalte die entscheidenden Fakten versammelt sind, die sämtlich gegen {359} die Ehe sprechen, fallen ihm für die linke Spalte nur Bilder und Visionen ein. Vor allem will er seine Tage nützlich verbringen, und seine größte Angst gilt der Verschwendung von Zeit. Aber wie sähe ein Leben aus – so fragt eine zweite, leisere, doch ebenso eindringliche Stimme –, das nützlich und nichts als
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