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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Zwei-Zimmer-Appartement des zentral gelegenen Wiener Hotels ›Matschakerhof‹. Kafka wollte endlich Ruhe, Pick nötigte ihn zu einem ersten Rundgang. Auf der Straße verfiel Kafka in seinen gewohnten Eilschritt. Pick, einen Kopf kleiner, protestierte. Da wurde Kafka noch ein klein wenig schneller.
    Nichts wäre ihm jetzt lieber gewesen, als in den wenigen freien Stunden, die noch verblieben, seiner eigenen Wege zu gehen – inkognito, unter weiträumiger Vermeidung der einschlägigen Kaffeehäuser. Doch daran war nicht zu denken. Wie etwa hätte er es rechtfertigen sollen, dem von Berlin nach Wien zurückgekehrten Albert Ehrenstein, einem seiner ersten und wichtigsten Rezensenten, einen kurzen Besuch zu verweigern? Also machte er sich mit Pick gleich am ersten Tag – es war ein außerordentlich klarer, sonniger Sonntagvormittag – auf den Weg in den XVI. Bezirk, um dort in einer armselig kleinbürgerlichen Behausung lustlos in den Manuskriptseiten von Ehrensteins erstem Lyrikband zu blättern. [368]   Danach fuhr man zu dritt zurück in die Innenstadt, und Kafka dirigierte die (vermutlich mäßig begeisterte) Gruppe ins vegetarische Speisehaus ›Thalysia‹ am Hofburgtheater.
    Zweifellos hatte Pick, ein ähnlich schwärmerischer Mediator wie Brod, den Ehrgeiz, seinen Begleiter, dessen übler Laune zum Trotz, in die heiße Zone der Wiener Literatur einzuführen. Zwei Kaffeehäuser erwähnt Kafka, das ›Beethoven‹ und das berühmtere, von Loos gestaltete Künstlercafé ›Museum‹, wo er Gelegenheit hatte, wenigstens eine atmosphärische Witterung dessen aufzunehmen, was er bisher fast ausschließlich in gedruckter Form kannte. Besonders ertragreich können die Anstrengungen Otto Picks jedoch nicht gewesen sein. Denn wenn es auch eine der Depression geschuldete Übertreibung sein dürfte, wenn Kafka versichert, er »sitze dort als das Gespenst {398} bei Tisch«, so war er gewiss nicht sonderlich gesprächig und folgte Einladungen ins Kaffeehaus nur äußerst widerwillig – insgesamt nur zweimal innerhalb einer Woche, wie er gegenüber Brod behauptet. [369]  
    Ungünstig auch, dass Pick kaum Gelegenheit hatte, ihm wirkliche Prominenz vorzuführen und seine Neugier auf diese Weise zu wecken. Gewiss, Kafka freute sich – und es war einer der wenigen Lichtblicke in Wien –, Ernst Weiß wiederzubegegnen, dem gegenüber er zunehmende Nähe fühlte. Die Sehenswürdigkeiten Musil, Kokoschka und Alma Mahler hingegen befanden sich allesamt auf Ferienreise. Der mit Ehrenstein befreundete Georg Trakl, dessen opake, verschattete GEDICHTE soeben in der Reihe ›Der jüngste Tag‹ erschienen waren, hielt sich in Tirol auf. Auch Peter Altenberg blieb unsichtbar; erst im Mai war er aus der Irrenanstalt ›Am Steinhof‹ entlassen worden und lebte seither am Lido von Venedig. Allenfalls eine Begegnung mit Karl Kraus wäre denkbar gewesen – denkbar, jedoch nicht machbar. Zwar gab es niemanden innerhalb der weitläufigen Fackel- Gemeinde, der nicht gewusst hätte, wo Kraus zu besichtigen war: beispielsweise am Kärtner Ring, Café Imperial, keine zehn Minuten vom ›Museum‹ entfernt. Doch Ehrenstein, der von Kraus gefördert wurde, vermied es wohlweislich, sich dort mit Leuten aus der Provinz sehen zu lassen. (Wodurch ein literarhistorisch bemerkenswertes Zusammentreffen nicht stattfand, denn am 9.September hätte Kafka im Café Imperial beobachten können, wie Kraus der Liebe seines Lebens vorgestellt wurde: Sidonie Nádherný.)
    Es hatte seine guten, Kafka sehr wohl bekannten Gründe, warum Kraus auf alles, was aus Prag kam, gerade jetzt besonders schlecht zu sprechen war. Der Schuldige hieß: Brod, jener »Polemiker wider Willen«, von dem Kraus seit dem Schlagabtausch von 1911 nichts mehr gehört hatte und der sich auch bei seinen Prager Lesungen schon lange nicht mehr blicken ließ. Brod litt Qualen, wenn er an jene Blamage dachte. Er hatte einen Gegner attackiert, der ihm sprachlich und intellektuell überlegen war, und er war öffentlich vorgeführt worden, ohne dass sich in Prag auch nur eine Hand für ihn gerührt hatte. Werfel, den er für seinen Schüler gehalten hatte, war übergelaufen, ebenso Haas; und Kafka, uneindeutig wie immer, lächelte und bot Vermittlung an. Brod aber wollte nicht Harmonie, er wollte Revanche. Und so stieß eines Tages Karl Kraus, als er die von Brod herausgegebene Anthologie {399} ARKADIA öffnete, gleich auf der ersten Seite auf einige erstaunliche Sätze:
»Mit diesen

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