Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
zurechtlegen müssen. Ihr Leben war Erwerbsleben. Nicht, dass sie Privates und Öffentliches nicht rein voneinander geschieden hätten, im Gegenteil: Diese Demarkationslinie war streng bewacht, kein Angestellter des Galanteriewarengeschäfts (soweit wir wissen) hat je die Wohnung seines ›Prinzipals‹ betreten, und niemals wurden familiäre oder finanzielle Probleme vor den Ohren des Hauspersonals diskutiert. Doch die Kafkas führten ein Familienunternehmen, und das war im doppelten Sinn zu verstehen: Nicht nur gehörte das Geschäft der Familie – natürlich unter der stillschweigenden Erwartung, dies würde so bleiben für alle Zeiten –, sondern die Familie gehörte ebenso dem Geschäft. Dass Kafkas Großvater Jakob Löwy noch im Alter von über achtzig Jahren mithalf, galt als selbstverständlich. Wurde juristischer Beistand benötigt, ging man zu Anwälten, mit denen man verwandt war. Und dass der Stundenplan des Lebens den allgemeinen Öffnungszeiten folgte, war schon derart verinnerlicht, dass Kafkas Eltern sich in der erzwungenen Untätigkeit kurzer Ferien- oder Kuraufenthalte niemals recht wohl fühlten. Nicht vom Geschäft erholte man sich, sondern für das Geschäft. Selbst an den Wochenenden im Hochsommer, wenn die Familie ein gemietetes Ferienhäuschen in der näheren Umgebung aufsuchte, kam es vor, dass Hermann Kafka noch ein paar Stunden allein im Geschäft arbeitete, ehe er sich den anderen anschloss.
Über das wirtschaftliche Schicksal des ›Geschäfts‹, um das die Gespräche der Eltern kreisten, soweit ihre Kinder zurückdenken konnten, ist Kafkas Selbstzeugnissen wenig zu entnehmen. Es ging langsam, doch stetig aufwärts, aber es muss auch zu bedrohlichen Einbrüchen gekommen sein, über deren Ursachen sich nur spekulieren lässt. Es war eine empfindliche Branche, auf welche die Kafkas sich eingelassen hatten, denn sie handelten en gros mit Gegenständen, {12} die entbehrlich waren: Schirme, Spazierstöcke, Handschuhe, Taschentücher, Knöpfe, Stoffe, Taschen, feine Unterwäsche, Muffs … alles ›Accessoires‹, auf die man in schlechten Zeiten zuerst verzichtete und deren Absatz daher ein guter Indikator des allgemeinen Lebensstandards war. Dennoch gelang es, das Geschäft im Herbst 1912 an eine der repräsentativsten Adressen Prags zu verlegen: in das Kinsky-Palais am Altstädter Ring, dasselbe Gebäude, in das einst Kafka zur Schule gegangen war. Der Umzug dorthin führte eigentlich nur um die Ecke, kaum hundert Meter waren zu überbrücken. Doch das Ladenschild am zentralen Platz der Prager Altstadt bedeutete einen Zuwachs symbolischen Kapitals, das sich bald auch in klingender Münze auszahlte.
Kein Zweifel, dass Kafka die niemals endenden Sorgen des Kaufmanns als den Brennstoff wirtschaftlicher Unabhängigkeit erlebte und dass er über diese Sorgen Tag für Tag und aufs genaueste unterrichtet wurde: gleichsam ein Existenzial des Familienlebens. Selbst wenn er absichtsvoll weghörte – und das geschah immer häufiger, seit er eigene berufliche Probleme hatte –, beherrschte doch auch ihn die verwickelte und ungemütliche Agenda, die das Geschäft allen aufzwang. Verließ er morgens das Haus, so setzte sich der Vater eben zum Frühstück. Gewöhnlich erst gegen 8.45 Uhr stellte sich auch der Chef hinter die Ladentheke, Julie Kafka wohl noch später, da sie mit dem Dienstmädchen und mit Valli, die sich um den Haushalt kümmerte, noch allerlei zu besprechen hatte und auch selbst Einkäufe erledigte. Zwischen 13 und 14 Uhr kamen die Eltern zurück, und das Essen wurde aufgetragen. Wiederum Ottla war es, die dafür zu sorgen hatte, dass die Angestellten nicht unbewacht blieben, das warme Essen wurde ihr daher meist ins Geschäft getragen. Kam Kafka aus dem Büro nach Hause, gewöhnlich gegen 14.30 Uhr, erhoben sich die Eltern eben vom Tisch, ruhten vielleicht noch einen Augenblick im Lehnsessel und gingen dann zurück ins Geschäft. Ottla hatte um 16 oder 17 Uhr endlich Feierabend (bei einem freien Nachmittag pro Woche), die Eltern erst um 20 Uhr. Dazwischen erschien und verschwand ›das Fräulein‹, eine Tschechin namens Marie Wernerová, die ebenfalls im Haushalt diente und die im Laufe vieler Jahre zum Faktotum der Familie wurde.
Lang waren die Abende, ehe endlich Ruhe einkehrte. Erst gegen 21.30 Uhr wurde die letzte Mahlzeit eingenommen, zumeist wohl die {13} ›Reste‹ vom Mittag, während Kafka, ein ebenso unbelehrbarer wie anspruchsvoller Vegetarier, unter den
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