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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Fälle schneller bearbeiteten. An Sorgfalt nahm es wohl keiner mit ihm auf, und dass Kafka darüber auch Befriedigung verspürte, lässt sich schon daran ermessen, dass er seine ›Amtlichen Schriften‹ vor den literaturbesessenen und technikfernen Freunden keineswegs versteckte.
    Dennoch wuchs die Überzeugung und allmählich auch die Qual, unwiederbringliche Ressourcen zu verschwenden an Dinge, die ihn im Innersten nichts angingen. Er hasste die Anstalt von außen , nicht anders als das elterliche Geschäft, und wenn er nach Dienstschluss gegen 14 Uhr aus dem großen Portal in das Licht und den Lärm der Straße trat, packte ihn Widerwille bei dem Gedanken, am nächsten Morgen dort wieder hinein zumüssen und womöglich noch froh zu sein, wenn die Zeit verging. Ihm war, als habe er die Hälfte seines Lebens {17} verkauft, als beginne jeder Lebenstag um zwei Uhr mittags, und nur ein flüchtiger Trost war es, dass andere weitaus härter arbeiteten. Gewiss, er hatte einen der begehrten Posten ergattert, die den Lebensunterhalt sicherten und dennoch die Nachmittagsstunden frei ließen. ›Einfache Frequenz‹ nannte man das in der Behördensprache, und Kafka hatte genügend Einblick in das böhmische ›Erwerbsleben‹, um zu wissen, dass er damit zu den Privilegierten zählte. Doch es war nicht die vergeudete Zeit allein.
    Am 19.Februar 1911 blieb der Anstaltsbevollmächtigte Dr.Kafka zu Hause, und auf dem Schreibtisch seines Vorgesetzten Eugen Pfohl langte ein Entschuldigungsbrief ein, wie ihn diese Behörde wohl noch niemals gesehen hatte:
»Wie ich heute aus dem Bett steigen wollte bin ich einfach zusammengeklappt. Es hat das einen sehr einfachen Grund, ich bin vollkommen überarbeitet. Nicht durch das Bureau aber durch meine sonstige Arbeit. Das Bureau hat nur dadurch einen unschuldigen Anteil daran, als ich, wenn ich nicht hinmüsste, ruhig für meine Arbeit leben könnte und nicht diese 6 Stunden dort täglich verbringen müsste, die mich besonders Freitag und Samstag, weil ich voll meiner Sachen war gequält haben dass Sie es sich nicht ausdenken können. Schliesslich das weiss ich ja ist das nur Geschwätz, schuldig bin ich und das Bureau hat gegen mich die klarsten und berechtigsten Forderungen. Nur ist es eben für mich ein schreckliches Doppelleben, aus dem es wahrscheinlich nur den Irrsinn als Ausweg gibt. Ich schreibe das bei gutem Morgenlicht und würde es sicher nicht schreiben, wenn es nicht so wahr wäre und wenn ich sie nicht so liebte wie ein Sohn.
Im übrigen bin ich morgen schon wieder sicher beisammen und komme ins Bureau, wo ich als erstes hören werde, dass Sie mich aus Ihrer Abteilung weghabenwollen.« [6]  
    Eine Kostprobe des entwaffnenden Charmes, mit dem Kafka gerade in verzweifelten Situationen zu brillieren vermochte. Dass Pfohl diesen Brief unmöglich in der Personalakte abheften konnte, muss Kafka klar gewesen sein (und überliefert ist der Wortlaut nur, weil er ihn zuerst im Tagebuch formulierte), doch offenbar war er sich völlig sicher, dass dies nicht geschehen würde: Nein, Pfohl wollte ihn keineswegs »weghaben«, und diesen Trumpf spielte hier Kafka nicht zum letzten Mal.
    Heute käme es wohl keinem Angestellten in den Sinn, dem eigenen ›Chef‹ ein derartiges Beweisstück der eigenen mangelnden Motivation zu liefern. Aber auch in Kafkas beruflichem Umfeld, das weniger vom {18} Arbeitsrecht als von den Gesetzen der Protektion beherrscht wurde, war eine derartige Überlagerung persönlicher und dienstlicher Mitteilungen gewiss ungewöhnlich: eine Verletzung der Spielregeln, die sich nur leisten konnte, wer besonderes Vertrauen genoss.
    Was aber hatte es mit jener ominösen »sonstigen Arbeit« auf sich, die Kafka für seine Erschöpfung verantwortlich macht, was sind das für »Sachen«, die ihn derart ausfüllen, dass für die beruflichen Pflichten kein Raum mehr bleibt? Er belässt es bei Andeutungen, ganz so, als müsse der Adressat verstehen, worum es geht. Tatsächlich ist Kafkas Brief ein klares Indiz dafür, dass er seine nächtlichen Aktivitäten, die er beharrlich und provozierend immer wieder als »Arbeit« auszeichnete, seiner Behörde keineswegs verschwieg, ja mehr noch, dass er sogar mit einer gewissen Nachsicht rechnen konnte.
    Es waren vor allem Juristen, Versicherungsexperten, Unternehmer und Ingenieure, mit denen er den beruflichen Alltag teilte, doch keinesfalls hat man sich diese Szene als illiterat vorzustellen. Eugen Lederer, Direktor der

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