Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
verächtlichen Blicken seines Vaters ein ganzes Sortiment von Tellern und Schüsselchen um sich aufbaute, wahlweise mit Joghurt, Nüssen, Kastanien, Datteln, Feigen, Trauben, Mandeln, Rosinen, Bananen, Orangen oder sonstigem teuren Obst, dazu ein wenig Vollkornbrot.
Zum guten Schluss eine Stunde Freizeit, die Hermann Kafka mit der Abendausgabe des Prager Tagblatts und beim Kartenspiel verbrachte: am liebsten natürlich mit männlichen Verwandten, im Alltag notgedrungen mit seiner Frau, die sich diesem Schicksal längst ergeben hatte und die bisweilen, nach aufreibendem Arbeitstag, noch bis 23 Uhr oder länger beim ›Franzefuß‹ saß. Für dieses Spiel, fand Kafka, brauche man weniger Verstand als zum Holzhacken. Zu sagen wagte er das natürlich nicht, doch das ewige Pfeifen, Singen, Hohngelächter und Karten-auf-den-Tisch-Hämmern ging ihm derart auf die Nerven, dass er sich, trotz väterlicher Kommandos, nur selten dazu überwinden konnte, mitzumachen. Lieber setzte er sich, eine Wolldecke um die Beine gewickelt, in sein kaltes Zimmer. Irgendwann musste doch auch der Vater müde werden. Dann würde sein Schlafrock wieder durchs Zimmer schleifen, in umgekehrter Richtung. Die Tür zum elterlichen Schlafzimmer würde sich schließen, und ein zweites, ein anderes Leben würde beginnen, das nächtliche Leben des Schriftstellers Franz Kafka.
Es kam vor, dass die Eltern für eine oder zwei Wochen nach Franzensbad fuhren, ein böhmisches Kurstädtchen, gepriesen als »Österreichs hervorragendstes Herzheilbad«. Der Hausarzt bestand darauf. Doch wer bewachte inzwischen das Geschäft? Elf Stunden lang am Verkaufstisch zu stehen, das war Ottla schlechterdings nicht zuzumuten, auch wenn es in der Hochsaison im Herbst bisweilen passierte. Dann musste also Franz aushelfen. Er ging am späten Nachmittag in den Laden, sichtete die eingegangene Post (darunter auch alles Private, das der Briefträger stets hier ablieferte), beruhigte die Eltern brieflich über Umsatz und Lieferungen, verabschiedete endlich die Angestellten, verriegelte die Eingangstür und trug den Schlüsselbund nach Hause. Keine große Sache. Es machte ihm nichts aus, mit dem Personal ein wenig zu plaudern, deutsch oder tschechisch, und vom Lehrjungen bis zum Buchhalter waren alle froh, wenn eine Zeit lang statt des polternden {14} Prinzipals dessen höflicher Sohn erschien, der selbst vor den einfachsten Tätigkeiten eine Art von Respekt bezeugte. Dachte dann Kafka im Stillen darüber nach, welche Energien das Geschäft von jeher einsaugte und verzehrte, wie es das Denken und Fühlen aller überschattete, dann begann er es zu hassen. Doch er hasste es nicht, wenn er dort war.
Auch im Büro war Kafka allgemein geschätzt. Ein wenig undurchsichtig wirkte er, zugegeben, und sein ewiges Lächeln ließ nicht erkennen, ob es ihm gut oder schlecht ging, ob die Arbeit und seine Karriere in der Arbeiter-Unfall-Versicherung ihn befriedigte oder nicht. Doch er war zuvorkommend, auch gegen Büroboten und Tippfräulein, er beteiligte sich weder an den üblichen Amtsintrigen noch an dem nationalen politischen Palaver zwischen Deutschen und Tschechen, er zeigte selten Launen und niemals das Bedürfnis, ein Revier zu verteidigen.
Auch seine Vorgesetzten wussten längst, was sie an ihm hatten, und sie sorgten dafür, dass Kafka die unteren Ebenen der Beamtenhierarchie möglichst rasch hinter sich ließ: Im Oktober 1909, nach kaum mehr als einem Jahr, wurde er zum ›Anstaltspraktikanten‹ ernannt, im Mai 1910 zum ›Concipisten‹, im Februar 1911 zum Bevollmächtigten der Anstalt und bald darauf auch zum stellvertretenden Abteilungsleiter. Kafkas unmittelbare Vorgesetzte, Eugen Pfohl und der Leitende Direktor Dr.Robert Marschner, verfolgten damit gewiss auch ein eigenes Interesse. Denn nur mittels formeller Beförderungen war es möglich, Kafka von bloßen Routinetätigkeiten abzuziehen und ihm komplexere Aufgaben zu übertragen, die seinen Fähigkeiten besser entsprachen und bei denen er die Chefs tatsächlich entlasten konnte.
Eine der wesentlichen Aufgaben der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt war es, einem seit zwei Jahrzehnten bestehenden und noch immer heftig umkämpften Gesetz endlich Geltung zu verschaffen: der Beteiligung der Unternehmer an der Unfallversicherung ihrer Arbeiter. Kafka hatte zunächst lernen müssen, wie man Beiträge festsetzt: je höher die Zahl der Unfälle, desto höher der Pro-Kopf-Beitrag des Unternehmers. Die Unfallstatistiken, die
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