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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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man dazu benötigte, wurden von hauseigenen Mathematikern erstellt und ausgewertet, die endgültige ›Einreihung‹ der Betriebe in eine der ›Gefahrenklassen‹ erfolgte dann nach einem ausgeklügelten Schema und unter Beratung durch technisch ausgebildete ›Kontrollore‹.
    Nun ließ es sich freilich kaum ein böhmischer Unternehmer gefallen, dass man seinem Betrieb überdurchschnittlich viele oder gar vermeidbare Unfälle bescheinigte. Zu Hunderten und zu Tausenden wurden Widersprüche eingelegt, sogenannte Rekurse, und zahllose Beschwerden gegen die sturen Prager Beamten gingen über deren Köpfe hinweg ans Innenministerium in Wien. Denn was hieß ›überdurchschnittlich‹, und was war ›vermeidbar‹? Konnten Juristen und Versicherungsexperten – mithin Leute, die als Handwerkszeug nur Feder und Tinte kannten – hier überhaupt mitreden?
    Tatsächlich war dies der verletzbarste Punkt in Kafkas Behörde. Legte ein Unternehmer Widerspruch ein, so musste man ihm nachweisen, dass der Unfallschutz in seinem Betrieb nicht auf neuestem Stand war. Was aber war der neueste Stand? Das ließ sich durch Dekrete nicht ein für alle Mal festlegen, sondern musste ständig neu erkundet werden, und, wenn möglich, durch Augenschein. Diese technische Kompetenz hatte sich der Jurist Kafka sehr rasch angeeignet, er hatte entsprechende Lehrgänge besucht und die nordböhmischen Industriestädte bereist. Auf seinem riesigen Büroschreibtisch lagen neben den schwankenden Stapeln eingegangener Rekurse stets auch Fachzeitschriften für Unfallschutz, und zumindest in den Branchen, auf die er sich spezialisiert hatte – das waren vor allem die holzverarbeitende Industrie sowie Steinbrüche –, gab es wohl nur wenige Praktiker, die über technische Details so virtuos verfügten wie Kafka.
    Eine weitere Kompetenz kam hinzu, die sich für die ›Anstalt‹ als außerordentlich nützlich erwies: Kafkas sprachliche Wendigkeit. Denn der soziale Auftrag, den diese halbstaatlichen Versicherungen hatten, bestand ja nicht nur darin, Unfälle finanziell abzustrafen, sondern ihnen auch vorzubeugen, und das ließ sich nur durch Propaganda, Aufklärung und durch vorsichtigen Druck erreichen. So wurden in den Jahresberichten der Anstalt immer wieder technische Belehrungen zum Unfallschutz veröffentlicht, mit denen man den Unternehmern zu vermitteln suchte, was man für den unabdingbaren Standard hielt. ›Unfallverhütungsmaßregel bei Holzhobelmaschinen‹ hieß einer dieser Aufsätze, der für eine neue, sichere Hobelwelle werben sollte. Ein propagandistisches Glanzstück, das mit Abbildungen zerschnittener Hände schockierte und zugleich an den wirtschaftlichen Eigennutz appellierte: Die weniger unfallträchtige Technik sei doch auch die billigere, wurde versichert. Gezeichnet ist dieser Aufsatz {16} nicht, doch wir wissen, dass niemand anderer als Kafka ihn verfasst hat. [5]  
    Auch im mündlichen Umgang mit aufgebrachten Beschwerdeführern muss Kafka sich früh bewährt haben. Als im September 1910 die Kleinunternehmer des Bezirks Gablonz einen Vertreter der Prager Versicherung ›einluden‹ – in Wahrheit wohl herbeizitierten, um endlich einmal Dampf abzulassen –, war es wiederum Kafka, der für diese Aufgabe nominiert wurde. Sein Auftritt, dem er mit begreiflicher Nervosität entgegensah, wurde in der Tagespresse angekündigt, und der ausführliche Bericht über die Versammlung, der dann in der Gablonzer Zeitung nachzulesen war, lässt ahnen, mit welcher sozialen Ignoranz man es in der böhmischen Provinz noch immer zu tun hatte. Trotz aller Beschwichtigungsversuche sah sich Kafka massiven Angriffen ausgesetzt, bis hin zu dem absurden Vorwurf, die Anstalt verhalte sich schikanös und Unfallschutz halte nur den Betrieb auf. ›Gedanken und Augen bei der Arbeit, das ist der beste Schutz gegen jeden Unfall‹, schimpfte einer der Unternehmer.
    Solche Sätze hörte und las Kafka wohl täglich, und seine im Büro entstandenen Texte lassen erkennen, dass er sich alle erdenkliche Mühe gab, sie zu entkräften. Seine früh im Tagebuch einsetzenden Klagen über die eintönige Fron vermitteln gewiss nicht die ganze Wahrheit: War Kafka im Amt, dann war er auch bei der Sache, und seine beständige Furcht, den Anforderungen nicht zu genügen, bezog sich eher auf die schiere Menge der zu erledigenden Korrespondenz als auf die berufliche Verantwortung selbst. Durchaus möglich, ja wahrscheinlich ist, dass Kafkas Kollegen die ihnen zugewiesenen

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