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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Leute hier, mitten in Ungarn? Hätte Kafka sie gefragt, sie hätten es mit Bestimmtheit nicht zu sagen gewusst. Es war ein Geheimnis, aber doch eines, das zwischen den Zeilen der Tagespresse {604} zu erraten war. Denn längst war durchgesickert, mit welcher Hartnäckigkeit die Führung des k. u. k. Heeres nach massiver deutscher Unterstützung rief und dabei auf geradezu erpresserische Weise mit der eigenen Niederlage drohte, die Deutschland mit in den Orkus ziehen würde. Am 13.April gab Wilhelm II. endlich nach: Es wurde beschlossen, im westlichen Galizien, zwischen Tarnów und Gorlice, wo Österreicher und Ungarn mühsam die Stellung hielten, die gesamte deutsche 11. Armee antreten zu lassen und die Russen unter ›Trommelfeuer‹ zu setzen (eine neue, infernalische Erfindung). Schon am 21.April begannen die Züge zu rollen, von Westen und von Süden. Und als Franz und Elli Kafka nur einen Tag später ihre Reise antraten, ahnten sie nicht, dass sie in ein Aufmarschgebiet fuhren, in dem die bis dahin größte und mörderischste Durchbruchsschlacht des Weltkriegs vorbereitet wurde. Und zugleich die erfolgreichste: Denn die Rückeroberung Galiziens, der mit brachialer technischer Gewalt erzwungene Rückzug der Russen sollte den Krieg um Jahre verlängern.

    Wo er eigentlich gewesen ist, wie nahe er dem Krieg war: Er wird es aus der Zeitung erfahren, nur wenige Tage später. Auf der Rückreise ahnt er noch nichts. Die Schwester hat er zurückgelassen, sie wird sehr bald nachkommen, ihre Kinder erwarten sie.
    Er wählt die schnellste Verbindung, steigt nur aus, um die Züge zu wechseln, er schläft im Coupé. Er hat jetzt nicht das Gefühl, irgend jemandem zuhören, irgendjemandem etwas Bedeutsames mitteilen zu können. In Budapest hat er zwei Stunden Aufenthalt. Es ist Abend, er geht in ein Kaffeehaus. Budapest, ein fremder Ort, doch eine Schwester Felices wohnt hier, eine Frau, die nicht sonderlich glücklich scheint, trotz ihrer kleinen, bezaubernd schönen Tochter. Felice hat sie besucht, damals, unter dem lebendigen Eindruck ihrer neuen, amüsanten und wunderlich provinziellen Prager Bekanntschaften. Sicherlich hat sie in Budapest davon erzählt, damals – war das wirklich schon drei Jahre her? –, und gewiss wurde dabei viel gelacht. Ja, Kafka kann es sich vorstellen, körperhaft wie auf einer Bühne, ein paar Erinnerungsfetzen genügen ihm, Fotografien, Bilder von Bildern, und schon ist die Szene da.
    An der Wirklichkeit aber fährt er vorüber. Nicht Erinnerung, nicht Imagination, nicht Traum, vielmehr profane Wirklichkeit ist, dass Felice auch jetzt , in diesem Augenblick, im selben Moment, da Kafka in {605} einem Budapester Café auf die Uhr schaut und den Zahlkellner ruft, dass Felice eben jetzt in dieser Stadt ist, vielleicht nur wenige hundert Meter von ihm entfernt, und dass er, um sie leibhaftig zu sehen und zu berühren, beim ersten Schritt auf die Straße nur eine andere Richtung hätte wählen müssen. Sie hat versäumt, es ihm rechtzeitig mitzuteilen … vielleicht willentlich, vielleicht ging ein Brief verloren … er weiß von nichts. Er weiß nicht, was ist und was wird.
    Und darum wählt er die andere, die falsche Richtung. Er geht zum Bahnhof, besteigt seinen Zug, rollt hinaus in die Nacht. Zurück aus dem Niemandsland, zurück nach Prag, allein.

Dank
    Ulrike Greb ist die erste und die nächste Leserin.
    Ursula Köhler hat mit ihrem einfühlenden und stets präzisen Urteil über alle Klippen und Krisen hinweggeholfen.
    Gerda Fahrni, Henry F. Marasse und Marianne Steiner verdanke ich kostbare Informationen über die Familien Franz Kafkas und Felice Bauers. Sie haben mit großer Geduld zugehört, geantwortet und erzählt.
    Hans-Gerd Koch, Leo A. Lensing und Reinhard Pabst stellten in uneigennütziger Weise Materialien und eigene Forschungsergebnisse zur Verfügung. Ihr Beitrag zu diesem biographischen Versuch ist unschätzbar.
    Die Zahl letzter Unebenheiten, die Jochen Köhler durch geduldige und akribische Lektüre aufspürte, war eindrucksvoll.
    Für Gespräche, Hinweise und sachliche Hilfe danke ich Bernhard Echte, Arthur Fischer, Beate und Pedro Garcia Ferrero, Ekkehard W. Haring, Waltraud John, Guido Massino, Alexej Mend, Walter Mentzel, Richard Reichensperger, Uwe Schweikert, Dietrich Simon, Ulfa von den Steinen, Klaus Wagenbach, Benno Wagner sowie Mechthild und Christoph von Wolzogen.
    Monika Schoeller, die Verlegerin des S. Fischer Verlags, hat das Projekt einer Kafkabiographie seit

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