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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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war. ›Etappe‹ hieß das Zauberwort, das über Tod und Leben entschied, und wer die Gräben und Drahtverhaue aus eigener Anschauung kannte, träumte von der Versetzung in die Etappe. Die Versorgungseinheiten, die zu Friedenszeiten vielfach als paramilitärische Handlanger galten (weshalb Juden dort noch am ehesten avancieren konnten), wurden nun allseits beneidet: Sie durften nicht nur, sie mussten außer Reichweite des Feindes bleiben und waren daher ihres Lebens einigermaßen sicher.
    Offiziere, die in der Etappe lagen, konnten Besuche von Angehörigen empfangen: zwar nur für kurze Frist und nach Abwicklung umfänglicher bürokratischer Überprüfungen, doch solche Widrigkeiten fielen kaum ins Gewicht gemessen an der psychischen Entlastung, der alle Beteiligten entgegenfieberten. Der gesundheitlich angeschlagene Hugo Bergmann war überglücklich, als im Januar 1915 seine alte Mutter die Strapazen einer mehrtägigen Bahnreise auf sich nahm, um ihn zu besuchen. Vierundzwanzig Stunden durfte sie bleiben.
    Auch Elli, die ihren Ehemann seit Monaten nicht mehr gesehen hatte, war entschlossen, die Fahrt zu wagen und die Kinder für einige Tage in der Obhut der Familie zu lassen. Karl Hermann war in Nagy Mihàly stationiert (heute Michalovce/Slowakei), einem kleinen ungarischen Dorf an der Bahnlinie, die von Budapest nach Norden in Richtung Przemyśl führte. Die Front war mehr als 80 Kilometer entfernt, jenseits der Höhenzüge der Beskiden, das Gebiet galt als sicher. Doch wie kam man dorthin, wie sollte man sich verständigen, wo würde man eine Bleibe finden? Man kann sich die lautstarken Debatten am abendlichen Esstisch der Kafkas vorstellen, die nicht das Geringste davon hielten, ihre Tochter allein in dieses Abenteuer zu entlassen. Zumindest für die Anreise musste ein männlicher Begleiter {601} her, und das konnte nach Lage der Dinge nur der große Bruder sein. Er war der einzige nähere Verwandte, der noch Zivil trug.
    Wie Kafka es fertig brachte, sich für eine ganze Woche vom Bürodienst zu befreien, wissen wir nicht. Irgendwann Mitte April erhielt er die Nachricht, dass die erforderlichen Legitimationspapiere bei der Prager Militärbehörde bereitlagen. Am Morgen des 22.April bestieg er mit seiner Schwester Elli den Zug nach Wien.

    Ein Mädchen aus Žižkov. Ein jüdischer Geschäftsmann aus Wien. Ein polnischer Leutnant mit Begleiterin. Die Ehefrau eines Wiener Zeitungsredakteurs. Zwei jüdische Handelsreisende. Ein ungarischer Leutnant. Eine jüdische Familie aus Bistritz. Ein Husar in Pelzjacke. Ein altes Ehepaar. Ein deutscher Offizier. Eine ungarische Jüdin mit Tochter. Eine Krankenschwester. Ein ungarischer Stationsvorstand und sein kleiner Sohn.
    Eine Bahnreise im Kriegsjahr 1915: Das hatte nicht mehr viel zu tun mit den langen, aber doch schon fast routinemäßigen, minutengenauen Fahrten nach Berlin, viel weniger noch mit dem beinahe wollüstigen Gleiten durch fremde Landschaften, wie Kafka es bei seinen Reisen durch die Schweiz, nach Italien und Paris erlebt hatte. Nicht mehr für Stunden, vielmehr tage- und nächtelang war man in Berührung mit fremden Schicksalen, denen man sich schlechterdings nicht entziehen konnte. Eine rollende Bühne, auf der deutsch, tschechisch, ungarisch, polnisch, jiddisch gesprochen wurde, auf der Flüchtende und Heimkehrende, Diensthabende und Beurlaubte kamen und gingen. Jeder breitete aus, was er besaß, jeder wollte erzählen. Ein Schauspiel von unbestimmter Dauer. Denn Fahrpläne waren beinahe nutzlos. Der Zug rollte, hielt endlos an winzigen Stationen, ließ Militärzüge vorbei, rollte weiter.
    Kafka, wenig gesprächig, zumeist in die Ecke des Coupés verkrochen, hörte zu und beobachtete. »Eindringen kann ich scheinbar in die Welt nicht«, hatte er vor kurzem notiert, »aber ruhig liegen, empfangen, das Empfangene in mir ausbreiten und dann ruhig vortreten.« [565]   Das war ohne Leidenschaft gesagt. Doch dahinter verbarg sich eine Fähigkeit der Wahrnehmung, die sich mittlerweile zu einem geistigen Potenzial verdichtet hatte, mit dem Kafka wie im Flug hantierte. Er beobachtete Menschen, und was er sah, vermochte er noch Tage später zu reproduzieren, als zöge er ein Album mit Schnappschüssen hervor. {602} Er war Auge, ganz und gar. Aber dieses Auge erblickte nicht Bilder, sondern Zeichen. Und mit einer Sicherheit, die zu Kafkas innersten Geheimnissen zählt, fokussierte dieses Auge stets auf den Punkt der höchsten Signifikanz, der höchsten Dichte an

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