Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Kriegstagebuch führten und hin und wieder in Prag auftauchten, müssen Kafka sehr wirklichkeitsnahe Vorstellungen vom Krieg vermittelt haben, Bilder, die wenig zu tun hatten mit den haltlosen Phrasen und Schuldzuweisungen aus der Welt der Leitartikel. Er mühte sich, den politischen Vorgängen so weit zu folgen, als die offiziösen Berichte es zuließen. Doch immer wieder resignierte er vor dem alles umhüllenden Begriffsschaum, vor den wie Echos sich vervielfachenden Abstrakta, welche die Zensur umso leichter passierten, je hohler sie klangen: »Drohungen des Dreiverbandes«, »Neutralität«, »zuständige schwedische Stelle«, alles leicht verständlich, und doch nur, so fand er, »in bestimmte Form zusammengeballte Gebilde aus Luft«. [563]
Hält man sich allein an Kafkas Tagebücher und Briefe, so gewinnt man von der alles imprägnierenden Gegenwart des Krieges keinen rechten Begriff. Er, der Meister der kunstvollen Klage, bleibt stumm, wo es nicht um die Schicksale Einzelner, sondern um strukturelle Ursachen und großflächige Entwicklungen geht. Vor allem im Büro muss jetzt Kafka mehr denn je gelitten haben unter seiner Unfähigkeit, sich mit Bemerkungen von gewünschter Allgemeinheit an politischen Diskussionen zu beteiligen. Die Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen hatten seit Kriegsbeginn dramatisch zugenommen, und vor allem, seit die verheerenden militärischen Niederlagen {599} ganz offen mit der Unzuverlässigkeit ›slawischer Elemente‹ begründet wurden, drohten die Feindseligkeiten in manifeste Gewalt umzuschlagen – undenkbar, dass Kafka, der jetzt mehr aufgebrachte ›Parteien‹ anzuhören hatte als je zuvor, sich hier gänzlich hätte heraushalten können.
Die Tschechen waren schuld. Und die treulosesten aller Tschechen – das war lange bekannt – waren diejenigen aus Prag. Wer es noch immer nicht glaubte, dem wurde am 3.April 1915 der letzte Beweis geliefert: An diesem Tag ergab sich bei Zborów (Karpaten) beinahe kampflos das gesamte Infanterieregiment Nr. 28, das Prager Hausregiment. Es waren junge, unerfahrene Soldaten, fast 2000 Reservisten, die in ihren ersten Kampfeinsatz zogen. Sie hatten Befehl, Gräben auszuheben. Doch der Boden war metertief gefroren. Als der russische Angriff kam, standen die Tschechen ohne jede Deckung. Sie erhoben die Hände und sangen ›Hej Slovene!‹, die Hymne der Überläufer.
Ein Exempel wurde statuiert, die Höchststrafe verhängt: Das traditionsreiche Infanterieregiment Nr. 28 wurde aufgelöst. Karel Kramář, maßgeblicher Funktionär der Jungtschechen, wurde in Prag verhaftet, bald darauf auch Josef Schreiner, der Führer der gefürchteten (weil proletarischen) Sokol-Bewegung. Der Versöhnungskurs des böhmischen Statthalters, der sich schon im Monat zuvor unter politischem Druck hatte pensionieren lassen, war gescheitert. Jetzt wehte ein anderer Wind. Und von nun an würde man genauer darauf achten, an welchen Fenstern welche Flaggen hingen.
Nicht alle Prager traf der Krieg mit gleicher Härte. Im Zentrum des Unglücks saßen die Familien, deren Söhne ›im Feld‹ waren. Handelte es sich um einfache Soldaten, so erfuhr man von ihrem Schicksal zumeist nur durch zensierte Postkarten, auf denen noch nicht einmal der Aufenthaltsort des Absenders vermerkt sein durfte (sofern er ihn überhaupt wusste). Angehörige, die an Kampfeinsätzen beteiligt waren, sah man mit hoher Wahrscheinlichkeit erst als Verwundete wieder – oder viele Jahre später, wenn sie aus der Gefangenschaft heimkehrten – oder niemals mehr. Vor allem die Schlachten in den Karpaten Anfang 1915, die an Grausamkeit der ›Blutpumpe‹ von Verdun in nichts nachstanden, ließen dem Einzelnen kaum eine Chance, unversehrt nach Hause zu kommen. »Durchschnittlich leistete ein {600} Mann der Fronttruppen nur fünf bis sechs Wochen Frontdienst, bis er – statistisch – tot oder gefangen war bzw. verwundet oder krank nach hinten transportiert wurde.« [564] Auch Josef Pollak stand einige Tage an dieser Front, ehe er, vom eigenen Ischiasnerv bewegungsunfähig gemacht, erneut in ein Lazarett transportiert wurde.
Karl Hermann, der Ehemann Ellis, hatte zweifaches Glück. Er war kein einfacher Soldat, sondern hatte, wie Pollak, als Einjährig-Freiwilliger gedient und war daher als Leutnant der Reserve in den Krieg gezogen. Und er gehörte einem Trainregiment an, einer Einheit, die für reibungslosen Nachschub zu sorgen hatte, für den Kampf selbst aber nicht ausgebildet
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