Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Bedeutung.
Kafkas nachträgliche Aufzeichnungen über seine Reise nach Ungarn lassen erkennen, dass er sich dieser filternden und synthetisierenden Wahrnehmungsweise völlig bewusst ist. Er fixiert ein älteres Ehepaar, das auf dem Perron unter Tränen Abschied voneinander nimmt. Die Überlagerung von Intimität und körperlichem Verfall, die ihn an die eigenen Eltern zwanghaft erinnert, löst zunächst Scham und Abwehr aus: »Familienmässiges Verhalten ohne Rücksicht auf die Umgebung. So geht es in allen Schlafzimmern zu.« Dann aber beobachtet er, dass der Mann seiner Frau »in wehmütigem Scherz« ans Kinn fasst. »Was für eine Zauberei darin liegt, wenn einer alten Frau unter das Kinn gegriffen wird. Schließlich sehen sie einander weinend ins Gesicht. Sie meinen es nicht so, aber man könnte es so deuten: Sogar dieses elende kleine Glück, wie es die Verbindung von uns zwei alten Leuten ist wird durch den Krieg gestört.« [566] Von Gefühlen spricht Kafka nicht. Gerade darum aber ist die Szene bezwingend, und dass es menschliche Gesten gibt, deren Zeichenhaftigkeit das Bewusstsein der Beteiligten weit überragt, lässt sich eindringlicher nicht zeigen. Sie meinen es nicht so … und doch ist es so.
Ein Tag bis Wien. Ein weiterer Tag über Budapest nach Sátoralja-Ujhely, eine Kleinstadt an der Packeisgrenze des Krieges, einer jener ungastlichen Orte in der Etappe, wo man die jüdischen Flüchtlinge aus Galizien, kaum hatten sie sich niedergelassen, wieder hinauswarf. Ein Infanterieregiment war hier stationiert, ein großes Militärlazarett war errichtet, welches das erste Zurückfluten massenhaften Unglücks schon hinter sich hatte. Im Wiener Kriegsarchiv sind Fotografien aufbewahrt, auf denen lachende Krankenschwestern zu sehen sind (eine davon saß in Kafkas Coupé), peinlich saubere Laken und eine gemütliche Quarantänestation. Ein einziges Bild zeigt ein Detail der Wahrheit, ein Zeichen , das auch Kafka, hätte er hier Zutritt gehabt, gewiss nicht übersehen hätte: Es sind Schmalspurgeleise, die vom Bahnhof direkt ins Lazarett führten und über die Verwundete auf industriellen Loren bequem transportiert werden konnten.
Sátoralja-Ujhely war Endstation, und wer noch weiter nach Norden {603} wollte, brauchte dafür einen Befehl oder andere sehr gute Gründe. Die Legitimationspapiere aus Prag, die Kafka vorzeigte, genügten jedenfalls nicht, um sich zwischen die Soldaten in irgendeinen Militärzug zu drängen. Schon wieder hatte eine Behörde versagt und verlegte Kafka den Weg. So blieb nichts anderes übrig, als mit der Schwester, die sich in Ungeduld längst verzehrte, in einem schmutzigen Hotel den Postzug abzuwarten, der am Morgen abgehen sollte. Missmutig spazierte er über den Ringplatz, hörte Zigeunermusik in einem Kaffeehaus, schrieb eine traurige Karte an Felice, beobachtete das unverständliche Treiben der Einwohner und traf schließlich sogar einen Bekannten aus Prag. An sein Ziel aber gelangte er doch noch. Am folgenden Tag – wahrscheinlich am 25.April – schloss Elli ihren uniformierten Ehemann in die Arme. Und in Kafkas Tagebuch fällt der Vorhang.
Ein Zeichen war ihm tatsächlich entgangen. Vielmehr: Er hatte es wahrgenommen, aber doch die Bedeutung nicht erfasst. Die reichsdeutschen Militärs waren es, die hier überall umherstolzierten. Schon in Budapest war er förmlich zurückgeprallt vor der kolossalen Erscheinung eines deutschen Offiziers, der erst über den Bahnsteig und dann durch den Zug marschierte, die vielgestaltige Ausrüstung rings um den Körper gehängt. »Vor Strammheit und Grösse ist er steif; dass er sich bewegt ist fast erstaunlich; vor der Festigkeit der Taille, der Breite des Rückens, dem schlanken Bau des Ganzen reisst man die Augen auf, um alles in einem fassen zu können.« Deutsche auch in Sátoralja-Ujhely, wo Kafka einen jungen, Zigarre rauchenden Soldaten mit »strengen, aber jugendlichen Augen« beobachtet. Der Unterton der Bewunderung ist nicht zu überhören, noch immer traut er den Deutschen alles zu, auch die Rettung Österreichs, während er bei den k. u. k. Militärs nichts zu entdecken vermag als die bis zum Überdruss vertraute, von Selbstironie nur schwach verhüllte Indolenz. »Man muss doch den Gehalt verdienen«: Mit diesen Worten erhob sich ein österreichischer Oberstleutnant vom Esstisch, um sich Kafkas Papiere anzusehen. Undenkbar ein solcher Satz aus dem Munde eines deutschen Berufsoffiziers. [567]
Was aber taten diese
Weitere Kostenlose Bücher