Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
wechselseitige Berührungen. Jene begründen diese.
Novalis, BLÜTHENSTAUB
Kafkas Widerstände gegen die Buchpublikation erlahmten, seine Skrupel freilich nicht. Man spürt förmlich die üble Laune, in die ihn die Rückkehr in die ewig palavernde Familie und in das Schreibmaschinengehämmer des Büros versetzten; zu schweigen von den lästigen Anforderungen der Fabrik, wo wieder einmal die Reparatur des Motors zu überwachen war, dessen Abgase ihm, der nutzlos dabeistand, stundenlang die Luft zum Atmen nahm. Das war schwer zu ertragen für jemanden, der eben noch in gänzlicher Verantwortungslosigkeit an den Hängen des Harz umhergestreift war und sich volle drei Wochen lang nackt wie ein kleines Kind im Gras hatte wälzen dürfen.
Der altbewährte Fluchtweg zum Kanapee war diesmal versperrt. Denn Kafka hatte die Lieferung eines Buchmanuskripts versprochen, und Brod, der überdies behauptete, Rowohlt habe sich bereits danach erkundigt, drängte auf den Entscheid über die endgültige Auswahl der Texte. Nur noch um die Auswahl konnte es sich doch handeln – hatte nicht Kafka die Schubladen voll von unveröffentlichten Manuskripten? Brod vermerkt es säuerlich in seinem Tagebuch. Für Kafka hingegen ging es darum, eine neue Arbeitsweise, eine neue Art des Umgangs mit den eigenen Texten zu erlernen. Das ›Fertigmachen für den Druck‹ bedeutete für ihn einen aufgezwungenen Perspektivwechsel: Gewohnt, die innere Stimmigkeit und Geschlossenheit – die »Zweifellosigkeit«, wie er es wenig später anlässlich des URTEILS nennt – als einziges Kriterium literarischen Gelingens anzuerkennen, sollte er nun die mögliche Wirkung seiner Texte auf eine gänzlich anonyme Leserschaft ins Auge fassen. Diese Fernwirkung aber ist nicht nur unkontrollierbar, sie ist vor allem irreversibel. Was gedruckt ist, bleibt {93} jedem noch so starken Willen zur Vervollkommnung für alle Ewigkeit entzogen. Daher Kafkas ängstliche und Brod zunehmend auf die Nerven gehende Besorgtheit um die Feinheiten von Orthographie und Interpunktion.
Diese Unsicherheit wird verständlicher, wenn man bedenkt, dass Kafka keine neuen, noch lebendig in seinem Gefühl fortwirkenden Texte anzubieten hatte. Es war vereinbart worden, dass in den Band BETRACHTUNG neben den bereits in Zeitschriften veröffentlichten eine nicht näher bestimmte Zahl weiterer Prosastücke aufgenommen werden sollte, wobei Brod sich (und vermutlich auch Rowohlt und Wolff) über die aktuellen Möglichkeiten Kafkas täuschte – selbst dessen besten Publikationswillen vorausgesetzt. Kafka sah sich genötigt, aus der alten und längst gescheiterten BESCHREIBUNG EINES KAMPFES Stücke zum Druck herauszulösen, und im Tagebuch fanden sich dann nur noch weitere sieben Skizzen, die präsentabel waren oder wenigstens weitere Anstrengung lohnten. Mit diesem wenigen Material, mit dem er sich überwiegend gar nicht mehr identifizieren konnte, plagte sich Kafka mehrere Abende lang; am 7.August schließlich verlor er die Lust und schrieb Brod eine – hörbar dem schlechten Gewissen abgerungene – Absage:
»Ich bin ausser Stande und werde kaum in nächster Zeit im Stande sein, die noch erübrigenden Stückchen zu vervollkommnen. Da ich es nun nicht kann, es aber zweifellos in guter Stunde einmal können werde, willst Du mir wirklich raten – und mit welcher Begründung, ich bitte Dich – bei hellem Bewusstsein etwas Schlechtes drucken zu lassen, das mich dann anwidern würde […] Gib mir recht! Dieses künstliche Arbeiten und Nachdenken stört mich auch schon die ganze Zeit und macht mir unnötigen Jammer. Schlechte Sachen endgiltig schlecht sein lassen darf man nur auf dem Sterbebett. Sag mir dass ich recht habe oder wenigstens dass Du es mir nicht übel nimmst; dann werde ich wieder mit gutem Gewissen und auch über Dich beruhigt etwas anderes anfangen können.« [80]
Brod begriff, dass hier trotz des apodiktischen Tons durchaus noch ein Hintertürchen offen war – das implizite Versprechen, später »etwas anderes« zu liefern, wenn man ihn nur für diesmal in Ruhe lasse, klang ja geradezu wie die hilflose Ausrede eines Schülers, der seine Hausaufgaben versäumt hat. Und doch war es Kafka damit völlig ernst. Obgleich er auch im Sanatorium Jungborn, unter weit besseren äußeren Bedingungen, mit seinem Romanmanuskript nur zeilenweise {94} vorangekommen war, glaubte er, es sei nun gerade das nutzlose Flickwerk der BETRACHTUNG, das ihm kostbare Zeit für befriedigende literarische
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