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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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zurückzudenken an Weimar. Er hatte ein paar Postkarten geschickt, und tatsächlich, sie antwortete, ein Briefchen, das aus wenigen Floskeln bestand, und es kamen sogar Fotos. Das sei nichts als »Litteratur«, kommentierte Kafka scheinbar ironisch, »von Anfang bis zu Ende«. Literatur, also Erfindung. »Denn wenn ich ihr nicht unangenehm bin, wie es mir sehr vorkam, so bin ich ihr doch gleichgültig wie ein Topf. Aber warum schreibt sie dann so, wie ich es wünsche? Wenn es wahr wäre, dass man Mädchen mit der Schrift binden kann!« [77]  
    Ein Ausruf, an den sich Kafka sehr bald und noch häufig erinnern wird, ein Satz, der in eine Tiefe führte, die er bisher nur ahnte. Einsamkeit breitete sich aus, sobald er allein war, und diese Einsamkeit schien ihm jetzt wie eine tiefe, dunkle, geschichtete Masse, die nichts zu durchdringen vermochte. Gewiss, Linderung war möglich: Gespräche, Spaziergänge und »Kurzweil« führten Kafka für Stunden in eine heitere Selbstvergessenheit, die er in Prag kaum je erlebte. Ein Stück tiefer reichten die freundschaftlichen Briefe Brods, der häufiger an ihn dachte, als Kafka erwartet hatte, und der, selbst mit Melancholien kämpfend, jetzt zugewandter war denn je. Doch an die Wurzel drang auch das nicht.
    Brod hatte ihm ein Gedicht geschickt, wahrscheinlich handgeschrieben, ein Gedicht, das gewiss nicht zufällig von den gemeinsamen Freuden des vergangenen Sommers handelte. Es hieß ›Lugano-See‹, und Brod veröffentlichte es später mit dem Zusatz: »meinem Freunde Franz Kafka«.
Libellen rasteten an unseren Beinen,
Die zarten Flügelpaare ausgespannt. –
Ins Wasser hingestreckt von heißer Wand
Mochten wir ihnen Felsen oder Blumen scheinen.
Hoch oben zackte sich mit ihrem reinen
Kalkstaub die Straße, sonnenweiß gebrannt;
Zu uns die schweren Trauben hergewandt
Neigte sich die Kühle frauenhaft aus Weinlaubhainen.
Doch unsre Seelen waren, lieber Freund,
Erregt von leidvoller Vergangenheit
Und klangen auf in Worten schwarz und weit.
Auch wussten wir, wiewohl jetzt hold gebräunt,
Daß nahe Tage uns in gleiche Bürden
Beugen und unerbittlich bleichen würden. –
    Kafka freute sich, das Gedicht gefiel ihm (mit Ausnahme der »schweren Trauben«), noch mehr aber gefielen ihm diese Zeilen als Geschenk , das er an die Wand seiner Hütte heften konnte, als Beweis dessen, dass er nicht allein war auf der Welt. Er versprach, es auswendig zu lernen, und er legte Brod sogar den Gedanken nahe, ihm das Gedicht exklusiv zu widmen – das heißt, es niemals drucken zu lassen: » … denn, weisst Du, noch die erträumteste Vereinigung ist für mich das Wichtigste auf dieser Welt.« [78]   Das Nicht-Publizieren war Spaß, dieses Opfer verlangte er nicht wirklich; doch die Begründung war schwärzester Ernst, und wieder öffnete sich – für einen Wimpernschlag – eine Tiefe, in der jede papierne Gabe zu Asche zerfiel.
    Brod taten Kafkas Worte gewiss wohl, und er wusste, sie wären weniger herzlich ausgefallen, hätte er ein schlechtes Gedicht geschickt. Doch zwei Wochen später erhielt er aus Jungborn ein Stück Poesie, ebenso ›rein‹, doch von ganz anderer Art. Es war ein populäres Lied, das Kafka, ohne sich die Melodie zuverlässig einprägen zu können, schon ein paar Mal mitgesungen hatte. ›In der Ferne‹ hieß es, war etwa doppelt so alt wie Kafka selbst, und geschrieben hatte es Albert Graf von Schlippenbach. Etwas Volkstümliches, oder, um genau zu sein: etwas gänzlich Triviales. Doch es schnitt ihm in die Seele, und auf eine Weise, die er, Monate später, nur einer Frau zu gestehen vermochte: »Verliebt« sei er in dieses Lied, und die Abschrift, die er angefertigt hatte, könne er keinesfalls entbehren, denn »vollständige Ergriffenheit« sei hier in vollkommene Form gebracht. »Und dass die Trauer des Gedichtes wahrhaftig ist«, fügte er ohne weitere Erklärung hinzu, »das kann ich beschwören.« [79]  
Nun leb wohl, du kleine Gasse,
nun ade, du stilles Dach!
Vater, Mutter, sah’n mir traurig
und die Liebste sah mir nach.
Hier in weiter, weiter Ferne,
wie’s mich nach der Heimat zieht!
Lustig singen die Gesellen
doch es ist das falsche Lied.
Andre Städtchen kommen freilich,
andere Mädchen zu Gesicht!
Ach, wohl sind es andere Mädchen,
doch die eine ist es nicht.
Andre Städtchen, andere Mädchen,
ich da mitten drin so stumm!
Andre Mädchen, andere Städtchen,
o wie gerne kehrt ich um.

{92} Ein Fräulein aus Berlin
Es giebt aber einseitige und

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