Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Animation gesorgt war – morgendliches gemeinsames Turnen, Ballspielen und Singen inklusive –, musste der Anblick einer vereinzelten Badehose komisch wirken. Kafka merkte bald, dass er weit weniger Blicke auf sich zog, wenn er dem nackten Publikum seinen mageren, untergewichtigen Körper ungeschützt präsentierte. Es dauerte kaum mehr als eine Woche, da war er bereit, sich nackt zeichnen zu lassen.
Es waren nicht nur Scham und Gefühle der physischen Minderwertigkeit, die Kafka eine Zeit lang auf Distanz hielten; es gab auch ästhetische Gründe. Der jugendliche männliche Körper missfiel ihm durchaus nicht, und einmal bemerkte er gar zwei »schöne schwedische Jungen mit langen Beinen, die so geformt und gespannt sind, dass man nur mit der Zunge richtig an ihnen hinfahren könnte« – eine der Tagebuchnotizen, die er an den zweifellos neiderfüllten, in Hemd, Krawatte und Anzug schwitzenden Brod schickte. Doch es waren {86} überwiegend Bürger im fortgeschrittenen Alter, die sich im Sanatorium versammelten, und »alte Herren, die nackt über Heuhaufen springen, gefallen mir nicht«, konstatierte er. Ein wenig übel wurde ihm bei solchem Anblick, bisweilen, doch auch das verging. [72]
Um zu verstehen, welche Widerstände Kafka in Jungborn zu überwinden hatte, muss man sich freilich vor Augen halten, dass es wohl nur wenigen Juden einfiel, hier ihren Urlaub zu verbringen. Adolf Justs Naturideologie war auf eigentümliche Weise mit protestantischer Innerlichkeit und Jesusliebe verwoben, seine umfängliche Programmschrift wandte sich ausdrücklich an christliche Leser, und ein Gottesdienst unter freiem Himmel gehörte zum täglichen Kurprogramm. Es war möglich, sich dem zu entziehen – der Breslauer Beamte Dr.Friedrich Schiller, mit dem Kafka sich anfreundete, hielt Religion für Aberglaube und ließ das auch jeden wissen. Doch es war unmöglich für einen Juden, die Schwimmhosen auszuziehen, ohne als Jude identifiziert zu werden. Die sekundenschnellen Blicke auf den Penis, mit denen seine ethnische Nichtzugehörigkeit besiegelt war, dürften für den erwachsenen Kafka eine gänzlich neue Erfahrung gewesen sein. Und dies war die eigentliche Mutprobe von Jungborn, die seine Reisenotizen verschweigen.
Offene Ablehnung erfuhr er wohl kaum, denn die Regression in der Gruppe – ein bekanntes Phänomen von Kaserne, Kur und ›Cluburlaub‹, in Jungborn jedoch auf alle erdenkliche Weise gefördert – löste soziale Spannungen und lenkte den Blick auf die gemeinsame Sorge um den Körper. »Die Stimmung der Kurgäste in Jungborn ist stets eine fröhliche und heitere«, warb Just keineswegs zu Unrecht. »Das harmlose Leben der frohen Kurgäste untereinander bietet sehr viel Kurzweil und Unterhaltung in der unschuldigsten Weise.« [73] Auch Kafkas Notizen vermitteln den Eindruck, dass Konflikte und selbst sachliche Auseinandersetzungen hier strikt gemieden wurden. Allerdings war Kafka als Jude einer verschärften Missionstätigkeit ausgesetzt, und ein Anhänger der ›Christlichen Gemeinschaft‹, der einen Stapel Aufklärungsheftchen im Gepäck hatte, nahm sich seiner besonders an. Kafka entzog sich geschickt – was ihn andererseits nicht hinderte, beinahe täglich in der Bibel zu lesen, die in seiner Hütte selbstverständlich auslag.
Um Jungborn zu genießen, bedurfte es einer beträchtlichen Toleranz gegenüber jeder Form von Obskurantismus. Kein heilerischer {87} Ratschlag war unsinnig genug, um nicht ernst und ausführlich besprochen zu werden. Dazu kam eine ständige, unkontrollierte Überlagerung medizinischer, pflegerischer und religiöser Topoi mit teils komischen Kurzschlüssen – besonders beliebt die vegetarische Auslegung der Bibel –, teils aber auch unmittelbar gefährlichen Grundsätzen. »Wenn der Mensch keine Fehler machte«, schrieb Adolf Just, »bei einfacher Lebensweise, besonders in ruhiger selbstloser und demütiger Weise, in völliger Selbstverleugnung und treuer Hingabe Gott und seinen Mitmenschen diente […], so würden gewiß kaum chronische Krankheiten eintreten.« Woraus er schloss, dass Dutzende chronischer Erkrankungen, von der Migräne bis zur Tuberkulose, im Grunde alle identisch seien. [74]
Auch der gesetzlich vorgeschriebene, approbierte Kurarzt, der in Jungborn tätig war, bot dazu kein Korrektiv, im Gegenteil. Just hatte sich klugerweise (wie er glaubte) an einen Arzt gewandt, »der sich zu der naturgemäßen Heil- und Lebensweise bekennt«; doch er geriet an
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