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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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eingetreten, die unter anderem Grammophone und Diktiergeräte herstellte, und war in kürzester Frist in eine verantwortliche Position aufgerückt. Dennoch betrachtete sie das Maschineschreiben, das nun überwiegend andere Frauen für sie erledigten, keineswegs als verächtliche Tätigkeit – wie sich herausstellte, machte es ihr sogar »Vergnügen«, Manuskripte abzutippen, und sie forderte Brod auf, ihr seine Arbeiten nach Berlin zu schicken. Kafka schlug vor Erstaunen mit der Hand auf den Tisch.
    Auf den Gedanken, das Schreibmaschinenfräulein nach ihrer Haltung zum Zionismus zu befragen, war offenbar noch keiner der Anwesenden verfallen, als sie ganz beiläufig erwähnte, sich zumindest mit der hebräischen Sprache schon intensiv beschäftigt zu haben. Kafka, der erneut seinen Ohren nicht traute, zog nun ein Exemplar der Monatsschrift Palästina hervor, das er »zufällig« bei sich hatte. Sollte {98} man es nicht endlich einmal den vielen in Prag angestaunten Palästinatouristen gleichtun und selbst die Reise wagen? Nicht einmal Brod hatte ja bislang ernsthaft daran gedacht, sich von der Existenz des Gelobten Landes mit eigenen Augen zu überzeugen. Warum also nicht? Der sonst von tausend Bedenken geplagte Kafka war plötzlich zu allem bereit, war sogar bereit, im folgenden Jahr seinen gesamten Urlaub für Palästina zu opfern. Und das Wunder geschah: Fräulein Bauer erklärte sich einverstanden, mit diesen Herren, die sie eben erst kennen gelernt hatte, eine Reise zu unternehmen, die damals durchaus noch den Charakter einer Expedition hatte und Unbequemlichkeiten aller Art versprach – zu schweigen davon, dass allein die Schiffspassagen zwei kostbare Urlaubswochen beanspruchen würden. Meinte sie das wirklich ernst? Sie sei keineswegs wankelmütig, erklärte sie, und streckte die Hand aus. Kafka schlug ein.
    Dann verfügte man sich hinüber ins Klavierzimmer – da ihre Stiefel durchnässt waren, schlurfte Fräulein Felice in Pantoffeln von Brods Mutter, was ihr ein wenig peinlich war –, und dort konnte Kafka nun endlich seine Manuskripte ausbreiten. Brod dürfte über die wenigen Blätter ziemlich erschrocken gewesen sein – wie sollte daraus ein Buch werden? Da war die Frage der Anordnung leichter zu beantworten: Die acht Stücke, die bereits in Hyperion erschienen waren, wurden im Wesentlichen in ihrer Reihenfolge belassen, die sommerhelle Idylle KINDER AUF DER LANDSTRASSE würde den Band eröffnen, das schwärzeste und buchstäblich gespenstische Stück UNGLÜCKLICHSEIN ihn beschließen. An den Anfang stellte Kafka noch handschriftlich die Widmung »Für M. B.« – später wunderte er sich selbst darüber, warum er den Namen nicht ausgeschrieben hatte, seine Freundschaft mit Max Brod war doch kein Geheimnis –, und damit war die Arbeit getan. Das Ganze hatte sich natürlich unter fortdauerndem Plaudern der übrigen Anwesenden abgespielt, die zwar nicht für »würdig« befunden wurden, die Textchen zu lesen (was Felice Bauer als unfreundliche Geste in Erinnerung behielt), die sich aber nun schadlos hielten, indem sie sich mit witzigen Vorschlägen über die sicherste Art der Versendung überboten. Der in solchen Dingen ängstliche Kafka wurde von allen Seiten gefoppt, für Brod aber war klar, dass er das so schwer erkämpfte Manuskript keineswegs mehr herausrücken würde; er als Postbeamter würde sich wohl am besten selbst um den Versand kümmern. Liest man Kafkas bohrend-unglückliche Notate der folgenden {99} Tage, so muss man in der Tat bezweifeln, ob BETRACHTUNG jemals bis in die Auslagen der Buchhandlungen gelangt wäre, hätte Brod nicht bis zum letzten Augenblick die Hand darüber gehalten.
    Für die musikalische Unterhaltung der Gesellschaft hatte wieder einmal Brods Bruder Otto zu sorgen, es gab eine kleine Darbietung am Flügel, dann schlich sich Müdigkeit ein und mit ihr Ungezwungenheit, Brods Mutter döste auf dem Sofa, Otto hantierte am Ofen, der Vater am Bücherregal, die Übrigen unterhielten sich noch ein wenig über Literatur. Felice Bauer erwies sich als wohlinformiert (vielleicht auch nur als wohl vorbereitet), hatte Brods ARNOLD BEER gelesen und sich sogar an SCHLOSS NORNEPYGGE versucht, das sie jedoch nicht habe zu Ende lesen können – hier stockte Kafka wiederum der Atem, war das nicht eine Beleidigung der Gastgeber? –, worüber sie sich aber doch selbst wundern müsse, weshalb sie das Buch demnächst erneut vornehmen werde. (Was durchaus keine Höflichkeitsfloskel war,

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