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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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initiale, schmerzhafte Stoß erfolgte, überdecken.
    In die Reihe derartiger Augenblicke gehört auch der Abend des 13.August 1912, der das Gesicht der deutschsprachigen, vielleicht der Weltliteratur merklich verändert hat. Im Unterschied zu anderen prominenten Beispielen eignet ihm jedoch ein Moment des Tragikomischen. Denn dieser Augenblick war planvoll herbeigeführt – von Brod {96} nämlich, für den der Tag der Manuskriptübergabe von Kafkas erstem Buch ein Schicksalstag der Literatur war, den die gebildete Welt würde zur Kenntnis nehmen müssen und dessen Folgen für den Autor selbst noch gar nicht abzusehen waren. Diese Erwartung hat sich erfüllt, mehr als erfüllt, und in einer Weise, die alles um Dimensionen überbot, was der um keinen Superlativ verlegene Brod sich hätte erträumen können; in einer Weise aber auch, die sein publikationsstrategisches Vorgehen grotesk ins Leere laufen ließ. Während er angestrengt Weichen stellte, um Kafka auf die Geleise des literarischen Erfolgs zu lenken, verfiel dieser in eine Trance, aus der er als ein anderer erwachte. Und ein glücklicher Zufall will, dass wir fast von Augenblick zu Augenblick, gleichsam in historischer Zeitlupe, nachvollziehen können, wie es geschah.

    Kafka kam, wie gewohnt, eine volle Stunde zu spät. Man kann sich die Nervosität Brods vorstellen, der auf diesen Tag schon zu lange gewartet hatte, um noch ruhigen Bluts Kafkas Unberechenbarkeit zu ertragen. Was hatte ihn aufgehalten? Das scheußliche Wetter? Hatte er noch letzte Hand an die BETRACHTUNG gelegt? Keineswegs. Wie sich zeigen sollte, hatte er noch nicht einmal über die Hauptsache nachgedacht, um die es doch heute gehen sollte, die wirkungsvollste Anordnung der Prosastücke. Die war ihm gewiss nicht gleichgültig, aber Brod hatte in diesen Dingen doch viel mehr Erfahrung, Kafka war gewohnt, sich ihm anzuvertrauen, man würde es sich, wie an zahllosen Abenden zuvor, bequem machen und in Ruhe darüber sprechen.
    Nun wartete aber auf Kafka eine Überraschung (»es gibt keine guten Überraschungen«, schrieb er im folgenden Monat an Brods Schwester): Am Tisch des Esszimmers saß neben Brods Familie ein weiterer Gast, eine junge Frau, die er hier noch niemals gesehen hatte. Das war ärgerlich. Zwar fühlte sich Kafka im Allgemeinen belebt, wenn in vertrautem Kreis eine (aber nur eine ) fremde Person dem Gespräch ein neues Ferment zuführte; gerade heute aber, da es um Dinge gehen sollte, von deren Qual allein Brod wusste, wäre ihm ungezwungene Häuslichkeit lieber gewesen. Leicht irritiert reichte er ihr über den großen runden Tisch hinweg die Hand – ein kleiner faux pas , denn man hatte ihn noch gar nicht vorgestellt – und setzte sich ihr gegenüber.
    Es handelte sich, wie er nun erfuhr, um eine entfernte Verwandte, {97} eine Cousine von Brods Schwager Max Friedmann. Sie hieß Felice Bauer und war eine Jüdin aus Berlin, die in einem Prager Hotel Station machte und morgen zu einer verheirateten Schwester nach Budapest weiterreisen würde. Eben wurden gemeinsam Urlaubsfotos betrachtet, und Kafka beteiligte sich, indem er sie einzeln über den Tisch reichte. Felice Bauer betrachtete die Bilder ernst und genau, schaute nur auf, um die zugehörigen Erklärungen aufzunehmen, und vernachlässigte dafür sogar das mittlerweile aufgetragene Essen. Als Brod eine diesbezügliche Bemerkung machte, erwiderte sie, nichts sei ihr abscheulicher als Menschen, die immerfort essen. Kafka horchte auf.
    Obwohl die üblichen literarischen Insider-Gespräche heute eigentlich nicht recht am Platz waren, verbreitete sich Brod weitläufig über die von ihm geplante Aufführung einer Operette. [81]   Felice wiederum nahm das Klingeln des Telefons zum Anlass, eine alberne Telefonszene zu schildern, die sie im Berliner Residenztheater gesehen hatte. (Kafka lernte die Szene auswendig.) Auch das Jargontheater wurde durchgenommen, von dem Kafka offenbar lachend erzählte, was Felice, wie sich später herausstellen sollte, als Ironie völlig missverstand. Als man höflichkeitshalber auf die entfernten familiären Beziehungen zwischen Prag und Berlin zu sprechen kam, erinnerte sich Fräulein Bauer unhöflicherweise daran, in ihrer Kindheit viel vom Bruder und von diversen Vettern geprügelt worden zu sein – also doch wohl auch von Brods Schwager –, sodass ihr Arm voller blauer Flecke gewesen sei. Auch ihr Beruf wurde erwähnt: Sie war drei Jahre zuvor als Stenotypistin in die Carl Lindström A. G.

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