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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Produktion stehle. Ja, selbst das »lächerliche Selbstbewusstsein beim Lesen alter Dinge im Hinblick auf das Veröffentlichen« führt er im Tagebuch als Hinderungsgrund an.
    Im Licht der Ereignisse, die nur wenige Tage später eine völlig veränderte Szenerie schaffen sollten, ist es freilich leicht zu konstatieren, dass Kafka sich hier etwas vormachte: Nicht Zeitmangel und schon gar nicht Selbstgefälligkeit waren es, die ihn an konzentrierter literarischer Arbeit hinderten. Doch immer stärker drängte sich ihm das Gefühl auf, dass unvergleichlich bessere Texte, die selbst seinem skrupulösen Begehren nach menschenmöglicher Vollkommenheit genügen würden, bereits in Reichweite seiner Kräfte waren, und dieses Gefühl täuschte ihn nicht. Was fehlte, war eine initiale Erschütterung, über deren Natur er sich zu diesem Zeitpunkt jedoch unmöglich im Klaren sein konnte. Brod wiederum verstand nicht, worauf Kafka noch wartete. Ihm, dem bereits die Prosa der BETRACHTUNG »göttlich« schien, wie er anlässlich der Manuskriptübergabe im Tagebuch notierte, lag der Gedanke völlig fern, Kafka könne den entscheidenden schöpferischen Durchbruch noch vor sich haben. Was er zweifellos wünschte, war, dass Kafka zur größeren Form fand, dass ihm ein Roman gelingen werde, und er hoffte, der Erfolg – und durchaus auch der Stolz – einer ersten Buchveröffentlichung werde die dafür erforderliche psychische Schubkraft liefern. Dass so etwas vorkam, hatte Brod nicht nur bei sich selbst, sondern auch in dem verzweigten literarischen Betrieb, den er überblickte, mehr als einmal beobachtet. Zu seinem Leidwesen stellte sich jedoch heraus – und in dieser Hinsicht war das Tauziehen um die BETRACHTUNG nur ein mattes Vorspiel –, dass Kafkas schöpferische Gezeiten ganz anderen Einflüssen gehorchten.
    Im Augenblick wollte Kafka nicht mehr, und es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie Brod reagierte. Seine Vorhaltungen müssen recht massiv gewesen sein; immerhin hatte der Freund unter Zeugen ein Versprechen gegeben, das man nicht unter Berufung auf irgendeinen allgemeinen »Jammer« wieder zurücknehmen konnte. Kafka war in der Lage, die Miniaturen in eine Form zu bringen, zu der er auch später noch würde stehen können, daran bestand für Brod nicht der geringste Zweifel, und wie jede bedingungslose Überzeugung scheint auch diese eine beträchtliche Suggestivkraft entfaltet zu haben. Denn {95} schon einen Tag nach jenem Brief heißt es lakonisch in Kafkas Tagebuch: »›Bauernfänger‹ zur beiläufigen Zufriedenheit fertiggemacht. Mit der letzten Kraft eines normalen Geisteszustands.« Diese letzte Kraft hielt dann doch noch einige Tage vor, sodass man sich für den Abend des 13.August in der Wohnung von Brods Familie verabreden konnte, um die Reihenfolge der Texte festzulegen und das weitere Vorgehen gegenüber dem Verlag zu besprechen. Einunddreißig Manuskriptseiten lagen bereit.

    Wie die Realgeschichte kennt auch die Geistes- und Literaturgeschichte herausgehobene Daten, die sich in den Bildungsfundus der Nachgeborenen, bisweilen aber auch in die Erinnerung der unmittelbar Beteiligten als ›schicksalhafte‹ Augenblicke der Entscheidung eingraben. Häufig handelt es sich um Momente, in denen seit langem vorbereitete, aber unbewusst aufgestaute Impulse und Vorstellungen unter der Wirkung eines äußeren, zufälligen Ereignisses ins Denken einbrechen und es schockhaft überfluten: die Erweckung des Universaldilettanten Jean-Jacques Rousseau zum Zivilisationskritiker an einem Oktobernachmittag des Jahres 1749 auf der Landstraße von Paris nach Vincennes; die erste Begegnung Hölderlins mit Susette Gontard, der späteren ›Diotima‹, am 31.Dezember 1795 zu Frankfurt am Main; das Aufdämmern der Idee einer »ewigen Wiederkunft des Gleichen« im Gehirn Nietzsches während einer Wanderung am See von Silvaplana Anfang August 1881; Valérys Abschied von der Literatur in der Genueser Gewitternacht vom 4.Oktober 1892. Nicht selten werden derartige Erlebnisse zu ›Sternstunden‹ stilisiert: Die Betroffenen haben das Gefühl, ganz ohne ihren Willen auf einer Woge emporgetragen zu werden, sie erleben eine bis dahin nicht gekannte Intensität des Empfindens und Denkens, Dunkelheiten lichten sich, und der lang gesuchte rechte Weg liegt plötzlich im vollen Glanz. Von solchen Augenblicken können lebenslang fortlaufende Wellen der Produktivität ausgehen, die dann ihrerseits die profanen Umstände, unter denen der

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