Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
einen Anhänger der esoterischen Mazdaznan-Bewegung, der die Welt aus richtiger Atemtechnik zu kurieren gedachte und den Gästen von den Gefahren des Mondlichts erzählte. Kafka, der diesen Arzt wegen seiner Verdauungsbeschwerden aufsuchte, glaubte, nicht recht zu hören, als ihm der Verzicht auf Obst empfohlen wurde – durchaus überraschend in einem Sanatorium, in dem die ›Fruchtdiät‹ tägliche Pflicht war. Kafka wandte sich nun an Adolf Just persönlich, der ihn auch prompt vor der Inkompetenz dieses Arztes warnte.
Dass Kafka sich hier dennoch wohl fühlte (freilich ohne den Wunsch, Jungborn wiederzusehen), lag zum einen daran, dass er vom Sinn der ausdauernden Selbstpflege grundsätzlich überzeugt war und sie in den eigenen Lebensentwurf seit langem integriert hatte: Weder von der fleischlosen Ernährung, noch vom systematischen Turnen, noch vom sogenannten ›Fletschern‹, dem minutenlangen Kauen jedes einzelnen Bissens, ließ sich Kafka jemals abbringen – schon gar nicht dadurch, dass sich sein Vater demonstrativ die Zeitung vors Gesicht hielt. Andererseits fühlte er jedoch keinerlei Bedürfnis, obskure Überzeugungen, denen er begegnete, zu korrigieren, und eine Versammlung von Menschen mit überproportionalem Anteil von Sektierern und Hypochondern fand er eher interessant als lästig.
Und darum machte er mit, was immer ihm geboten wurde. Er beteiligte sich am Mähen, am Heuwenden, an der Obsternte (wobei er {88} hoch in einen Kirschbaum kletterte), an gemeinsamen Spaziergängen und Ausflügen. Er sang Choräle, ging in Sandalen oder barfuß, und er spielte Karten. Er besuchte ein Schützenfest im nahe gelegenen Stapelburg, ja sogar einen Tanzabend, bei dem er wiederum ein Mädchen ansprach – in Prag ganz undenkbar. Als er einmal am Abend in seine Hütte zurückkehrte, hatten Witzbolde seinen Nachttopf auf den Schrank gestellt, einen nassen Waschlappen ins Bett gelegt und seine Lektüre ins Kopfkissen gestopft – alles zur Strafe dafür, dass er an einem Ausflug einmal nicht teilgenommen hatte. Ein schöner Beleg dafür, wie sehr Kafka schon dazugehörte und wie pennälerhaft sich die auffallend vielen Lehrer verhielten, die ihre Ferien hier verbrachten.
Auch Max Brod, den er weiterhin mit Notizen auf dem Laufenden hielt, scheint erstaunt darüber gewesen zu sein, wie intensiv sich Kafka mit schlichten Vergnügungen und literaturfernen Menschen abgab. Doch jenes bohrende Grundgefühl der Einsamkeit, das Kafka immer dann befiel, wenn äußerliche Nähe nicht durch wirkliche Nähe eingelöst wurde – Brod unterschätzte es noch immer und wurde zurechtgewiesen.
»Sag nichts gegen Geselligkeit! Ich bin der Menschen wegen auch hergekommen und bin zufrieden, dass ich mich wenigstens darin nicht getäuscht habe. Wie lebe ich denn in Prag! Dieses Verlangen nach Menschen, das ich habe und das sich in Angst verwandelt, wenn es erfüllt wird, findet sich erst in den Ferien zurecht; ich bin gewiss ein wenig verwandelt.«
Doch das »immerwährende grundlose Bedürfnis, sich anzuvertrauen« [75] , das Kafka in Jungborn schon nach wenigen Stunden befiel, nötigte ihn auch dazu, eine Wahl zu treffen. So schloss er sich Dr.Schiller an, dessen common sense ihm noch am vertrauenswürdigsten erschien, der auch literarische Interessen pflegte und den er schließlich sogar zu Flaubert zu bekehren suchte. Nein, er hatte keineswegs vergessen, dass Gesundheit und Entspannung nicht Selbstzweck waren – auch wenn das offenbar alle hier glaubten –, er wusste, dass es nicht die Prager ›Anstalt‹ war, für die er sich mästete. Er hatte jetzt einen Verleger, und er war auf dem Weg zum Schriftsteller. Freilich, seine Versprechungen in Leipzig waren vielleicht ein wenig voreilig gewesen, das musste alles noch einmal überdacht werden, und er wusste auch nicht, was er jetzt Rowohlt schreiben sollte, der doch {89} wohl irgendein Zeichen erwartete. Das erste Buch hatte noch Zeit, schien ihm jetzt, und auch gegenüber Brod vermied er das heikle Thema.
Dennoch ging Kafka am frühen Abend mit Feder und Reisetintenfass hinüber ins Schreibzimmer, um ein wenig in seinem Amerika-Manuskript zu blättern, ein paar Zeilen hinzuzufügen und zum Fenster hinauszuschauen, bis es dunkelte. »Es ist ein Gedanke des Jungborn, der mir wichtiger ist, als seine eigentlich grundlegenden, dass nämlich im Schreibzimmer nicht gesprochen werden darf.« [76] Doch die Stille lockte auch die Trauer herbei. Unmöglich, hier nicht
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