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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Eine flächendeckende Versorgung mit Bildungseinrichtungen, die Mädchen zur Universitätsreife führten, gab es jedoch erst in den Vorkriegsjahren – zu spät für die Geschwister Bauer, die über Realschule und (vermutlich) Kurse an einer Handelsschule nicht hinauskamen. Sie alle wurden in relativ frühen Jahren berufstätig: Else arbeitete für einen Hungerlohn im Geschäft ihres Onkel Louis, von Erna und Toni wissen wir, dass sie zeitweilig Büroberufe ausübten, wahrscheinlich als Sekretärinnen {185} oder Buchhalterinnen. Ein von Klavierspiel und Tennis ausgefülltes Moratorium zwischen Schule und Ehe, wie in gutbürgerlichen Kreisen üblich, konnten sich die Bauers nicht leisten.
    Freilich hätte Ferri, der einzige Sohn, den Weg zum Universitätsstudium einschlagen können. Dieser Hahn im Korb scheint jedoch Freiheiten genossen zu haben, die mit der an höheren Schulen damals geforderten Disziplin nicht zu vereinbaren waren. Verwöhnt und umsorgt, verdichteten sich in ihm die Schwächen des Vaters zu manifest antisozialen Eigenschaften: ein charmanter, gut aussehender Hochstapler, von Felice und wahrscheinlich auch von den anderen Schwestern bedingungslos geliebt, dabei unzuverlässig und die Solidarität der Familie ohne Bedenken ausnutzend. Ferri Bauer reiste als Korsettvertreter durchs Land, ewig knapp bei Kasse, immer wieder angewiesen auf Zuschüsse der Mutter. Es hat sich ein außerordentlich charakteristischer Brief des Siebenundzwanzigjährigen erhalten, in dem er den Eltern gesteht, sich an Kundengeldern vergriffen zu haben und nicht zu wissen, wie er den Tag der Abrechnung bestehen solle (was ihn freilich nicht daran hinderte, kurz zuvor noch einen Erholungsurlaub auf Rügen einzuschalten, ebenfalls auf Kosten der Mutter). Nachdem er beteuert hat, dies sei nun wirklich das letzte Mal, dass er ihre Hilfe in Anspruch nehme, droht er unverblümt mit Selbstmord für den Fall der Ablehnung, um dann der Mutter treuherzig zu versichern: »ich werde es Dir zurückgeben in Bar u. mit dem Herzen«. [148]   Daraus ist wohl nichts geworden, denn dies war noch keineswegs das letzte Mal, vielmehr ein Vorspiel kommender Turbulenzen, deren Ausläufer selbst der weit entfernte Kafka noch zu spüren bekommen sollte.
    Fünf moralische Katastrophen bedrohten die bürgerliche Familie der wilhelminischen Ära: offene eheliche Untreue, voreheliche Schwangerschaft einer Tochter, Konflikte mit dem Strafrecht, gelebte Homosexualität und Selbstmord. Jedes dieser Ereignisse konnte für sich die Reputation einer Familie zerstören und sie in der sozialen Hierarchie absinken lassen. Es ist aufschlussreich, dass gerade in jüdischen Familien derartige soziale Debakel weniger häufig vorkamen als in nichtjüdischen – jedenfalls, soweit sich das aus statistischem Material erschließen lässt. Nachweisbar seltener waren Selbstmorde, Ehescheidungen und uneheliche Geburten – zweifellos eine Folge der dichten und weit ausgreifenden Vernetzung jüdischer Familien, die {186} nicht nur für soziale Kontrolle sorgte, sondern auch Möglichkeiten der Entlastung bot. Wer innerhalb der jüdischen Familie Regeln verletzte oder in moralische Konflikte geriet, hatte keineswegs nur die üblichen Verbote, Sprachregelungen und Verdrängungen gegen sich, er musste sich auch einer weitläufigen Verwandtschaft stellen. Andererseits gab es hier auch immer Onkel und Cousinen, denen man sich rechtzeitig anvertrauen konnte, die jedoch weit genug entfernt waren, um nicht unmittelbar eingreifen zu können (man denke an Kafkas ›Madrider Onkel‹). Diese Dynamik von Druck und Entlastung dürfte seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als der Antisemitismus in Deutschland und in Österreich-Ungarn wieder spürbarer wurde, an Bedeutung eher noch gewonnen haben. Denn bürgerliche Juden, die ihrer latent feindseligen Umgebung keine Angriffsflächen bieten wollten, mussten mehr als alle anderen darauf achten, die Spielregeln strikt einzuhalten. »Adoptivkinder müssen doppelt brav sein«, war noch die harmloseste Umschreibung dieses Zwangs zur Konformität, der sich innerhalb der Familien als eine beständige nervöse Sorge fortpflanzte und als gesteigerter Ehrgeiz wieder nach außen abstrahlte. Wenn es um das soziale Ansehen ging, war mit jüdischen Eltern nicht zu spaßen, und jede entspannte Nonchalance war hier fehl am Platz. Das war bei den Kafkas nicht anders als bei den Bauers. Und doch konnte Felices Familie nicht verhindern, dass vier der

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