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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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fünf bürgerlichen Katastrophen sie innerhalb von nur zwei Jahrzehnten tatsächlich trafen.
    Kaum zwei Jahre waren verstrichen, seit die Familie Bauer in die Großstadt übersiedelt war, als Felices Vater einen überraschenden Versuch unternahm, seinem vorgezeichneten Lebensabend an der Seite Annas zu entrinnen: Er mietete eine eigene Wohnung im Westen Berlins und richtete sich dort mit einer anderen Frau ein. Zur damaligen Zeit ein unerhörter Coup, der nicht nur den ›Namen‹, sondern auch die ökonomische Existenz der Familie schwer bedrohte. Die tüchtige Felice war zu diesem Zeitpunkt erst vierzehn, und von Ferri, der jetzt zum Sprecher der Familie aufrückte, waren Zuschüsse keineswegs zu erwarten. Ein erhaltener Brief lässt vermuten, dass die Mutter Schulden machte und dass schon nach kurzer Frist die Pfändung der Wohnungseinrichtung drohte. [149]   Glücklicherweise zeigte sich Carl Bauer bereit, Unterhalt zu zahlen; ihn plagte ein schlechtes Gewissen der Kinder wegen, die er bisweilen in seinem Domizil empfing oder bei {187} Aschinger am Alexanderplatz bewirtete. Regelmäßig musste Felice quer durch die Stadt fahren, um beim Vater einige Geldscheine abzuholen, und damit übernahm sie schon früh eine heikle Mittlerrolle zwischen den ungleichen Eltern, eine Funktion, die sie quälte, die ihr aber auch Selbständigkeit gab und abverlangte.
    Dieser Schwebezustand endete abrupt nach etwa drei Jahren, als Carl Bauers Geliebte starb. Trauer und Einsamkeit konnte dieser leutselige Mann am allerwenigsten ertragen; hilfesuchend wandte er sich an seine in Wien lebende Schwester Emilie, von der er sich Rat und Trost erhoffte. Ihre Antwort ist überliefert und bietet einen der seltenen Einblicke in intimes jüdisches Krisenmanagement:
»Lieber Bruder!
Ich wundere mich auf daß höchste über deine Mitteilung von dem Ableben deiner Haushälterin, wo ich durchaus gar keinen Anteil nehme, es ist ein Fingerzeig Gottes, das es so gekommen ist eine Person die mit einem verheirateten Manne der fünf Kinder zu ernähren, gar nicht von der Frau zu reden hat gemeinschaftlich gelebt, hat es mit dem Leben gebüßt.
und jetzt eine ernste Aussprache mit dir. du klagst, u jammerst als wenn du eines dieser Familienglieder zu beweinen hättest, u. sagst du weist nicht zu was du dich ferner entschließen wirst, du stehst allein auf der Welt, dem ist nicht so, was ist natürlicher als daß du zu deiner Familie zurückkehrst, die Kinder haben dich alle lieb, u. werden dich mit offenen Armen aufnehmen u. sich freuen den Vater bei sich zu haben. es hängt nur von dir ganz ab. Du brauchst keine zwei Haushaltungen, die viel Geld kosten u. fremde Menschen füttern.« [150]  
    Was uns heute als seelische Grausamkeit erscheint, war damals der lebenspraktische Rat einer »dir gutmeinenden Schwester«, die sich um Carls Schicksal aufrichtig sorgte (später übersiedelte sie sogar seinetwegen nach Berlin). Sie tat nichts, als ihn guten Gewissens an den Vorrang sozialer Pflichten gegenüber privaten Gefühlen zu erinnern: Jene waren gottgegeben und unveränderlich, diese flüchtig, ohne Legitimität und außerdem kostspielig. Das Glück der Familie war Maß und Garant für das Glück des Einzelnen: kein Zweifel, dass auch im verwandtschaftlichen Umfeld Anna Bauers und der jungen Felice genau dieser Refrain angestimmt wurde [151]   , und es ist nicht schwer sich vorzustellen, was der resignierte Ehemann zu hören bekam, als er endlich klein beigab und in den Hafen der Familie zurückkehrte.
    Ob Kafka jemals vom Sündenfall seines Schwiegervaters in spe erfahren hat? Es ist wahrscheinlich, wenngleich nichts in seinen Briefen {188} darauf hindeutet. Doch liefern der Verlauf dieser Geschichte und die wenigen erhaltenen Zeugnisse aus der Familie einen wichtigen Schlüssel für Felices eigentümlich zwiespältiges, später geradezu inkonsistent erscheinendes Verhalten. Die Imperative einer Familienmoral, für die vor allem die Mutter einstand, hatte sie frühzeitig verinnerlicht; später imponierten ihr aber auch die unbürgerlichen Züge des geliebten Vaters, und die offenen, ›modernen‹ Umgangsformen in der Welt der Angestellten ermöglichten ihr eine gewisse ironische Distanz zu den kleinlichen Bedenken der Familie. Sie genoss es, in der Korrespondenz mit Kafka einen Schonraum der Innerlichkeit zu finden, in dem sie sich frei und ohne Scheu vor Vertraulichkeit äußern konnte: Gefühle, Träume und Erinnerungen versprachen offenbar schon

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