Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Metropolen; kein Erwachsener verschwendete einen Gedanken an die depravierten Kreaturen in Zoo und Zirkus, ganz zu schweigen vom Inferno der Schlachthöfe. Das Tier leidet, aber sein Leid zählt nicht in der moralischen Buchführung der Menschengeschichte. Das Tier gilt als stumm, weil seine Ausdrucksformen nicht als ›Sprache‹ nobilitiert sind. Aber vor allem kennt das Tier keine Scham: Es präsentiert seinen Körper in einer Weise, die den Menschen an seine eigene Animalität beständig und peinlich erinnert. Ekel ist die Folge, körperlicher Abscheu und Gewalt gegen diese allzu nah Verwandten.
Am schlimmsten aber sind die Insekten. Einen Menschen als Ungeziefer zu bezeichnen, ist eine Beleidigung, die schwerlich überboten werden kann; ihn gar als Ungeziefer zu behandeln, ihn ohne einen Blick und in völliger Achtlosigkeit beiseite zu schaffen, scheint geradezu unmöglich und mit der kommunikativen Bedeutsamkeit jeder menschlichen Geste unvereinbar (drei Jahre später wird der Gaskrieg beweisen, dass es dennoch möglich ist). Das Vernichten eines Insekts, ja selbst einer ganzen Insektenart gilt für nichts. Die vitale Zielstrebigkeit, die wir diesen Lebewesen immerhin zubilligen müssen, kann nur als negative, ›schädliche‹ gedacht werden, als programmierte Aggression, die jeden Skrupel überflüssig macht. Jahre später, als Kafka mit einer lästigen Phobie gegenüber Mäusen zu kämpfen hatte, versuchte er, diesen Atavismus, der ja mit einer wirklichen, benennbaren Bedrohung in gar keinem Zusammenhang steht, gegen alle sonstige Gewohnheit psychologisch zu erklären:
»Gewiss hängt sie [die Angst vor Mäusen] wie auch die Ungezieferangst mit dem unerwarteten, ungebetenen, unvermeidbaren, gewissermassen stummen, verbissenen, geheimabsichtlichen Erscheinen dieser Tiere zusammen, mit {212} dem Gefühl dass sie die Mauern ringsherum hundertfach durchgraben haben und dort lauern, dass sie sowohl durch die ihnen gehörige Nachtzeit als auch durch ihre Winzigkeit so fern uns und damit noch weniger angreifbar sind. Besonders die Kleinheit gibt einen wichtigen Angstbestandteil ab, die Vorstellung z.B. dass es ein Tier geben sollte, das genau so aussehn würde wie das Schwein, also an sich belustigend, aber so klein wäre wie eine Ratte und etwa aus einem Loch im Fussboden schnaufend herauskäme – das ist eine entsetzliche Vorstellung.« [177]
Das ist nicht ganz überzeugend, gilt zumindest nicht in der von Kafka angenommenen Allgemeinheit. Worauf es jedoch hier ankommt, sind die beiden Adjektive, die Kafkas Tierphantasien fast stets begleiten und mit einer charakteristischen Spannung aufladen: »stumm« und »fern«. Es sind die beiden Eigenschaften, die er – wie sich noch zeigen wird – am meisten fürchtete, die Eigenschaften, die ihn von der Angst unversehens zur Identifikation mit dem Tier führten.
Die Idee zur VERWANDLUNG ereilte Kafka genau dort, wo seinen Helden der Schock der Verwandlung selbst ereilt: im Bett, nach dem Erwachen. Es war der 17.November 1912, ein Sonntag. Kafka hatte keine Lust, sich zu erheben, er hatte zu überhaupt nichts Lust. Donnerstag, drei Tage zuvor, war der vielleicht glücklichste Tag seines bisherigen Lebens gewesen, der Tag, an dem die geliebte Frau ihn erstmals mit »Du« angesprochen hatte; doch seither nichts mehr aus Berlin, keine Zeile, kein Gruß. Also hatte sie es wohl doch nicht so ernst gemeint. Und würde heute wieder nichts kommen, war alles zu Ende. Da konnte man ebenso gut im Bett bleiben und still die Entscheidung erwarten. Kafka dachte an seinen Roman; gewiss war auch ihm die nahende Depression schon anzumerken, seit zwei Nächten schob Kafka den VERSCHOLLENEN mehr voran, als dass er sich von ihm hätte tragen lassen. Und Trost von Brod war heute auch nicht zu erwarten, denn der schien seit seiner Rückkehr aus Berlin, wo er mit Felice telefoniert hatte, recht übel gelaunt, so übel, dass er nicht einmal Briefe beantwortete, und überdies hatte Kafka die gestrige Verabredung mit ihm versäumt, einfach verschlafen, was halfen da Entschuldigungen.
Kafka lag auf dem Rücken und ließ den Blick über Wände und Zimmerdecke wandern. Kalt war es, und von draußen kroch, wie seit Tagen schon, ein trübes, graues Novemberlicht herein. Am Fenster {213} tropfte Tauwasser. Von Brod verlassen, von Felice verlassen. Nebenan die lebhaften Geräusche der Familie, das Geklapper aus der Küche, das Rauschen der Röcke, das Türenschlagen des ›Fräuleins‹,
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