Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
in ihren ersten Briefen jenes Fluidum einer warmen Offenheit, das Kafka für Nähe hielt.
Diese Vertraulichkeit bezog sie jedoch niemals auf den von Grund auf akzeptierten Status des Familienverbands, im Gegenteil: Sobald es ›ums Ganze‹ ging – und bei den Bauers sollte es noch mehr als einmal ums Ganze gehen –, traten die ältesten, am tiefsten verankerten Bindungen wiederum hervor, und Felice konnte sich unvermittelt und gleichsam bewusstlos in den Dienst einer stockbürgerlichen Diskretion stellen. Die Schweigemauern, die Anna Bauer errichtet hatte, traten dann auch Kafka entgegen, vor dem sich plötzlich alle Türen schlossen. Diese Abwendung, die gar nicht ›persönlich gemeint‹ war, sondern lediglich einem übergeordneten ›Gesetz‹ folgte, hat Kafka nicht nur schwer getroffen, er hielt sie auch für so signifikant, dass er sie zu einem zentralen Motiv seines Werks erhob. Die Frauen im PROCESS und im SCHLOSS, die sich dem hilfesuchenden Protagonisten immer nur so lange zuwenden, bis das ›Gesetz‹ sie ruft, sind nicht zuletzt Reflexe dieser Erfahrung.
Wiederholte sich zwischen Kafka und Felice Bauer eine Konstellation, die sie bereits in ihrer eigenen Familie durchlitten hatte? Der Gedanke ist verführerisch, denn zweifellos repräsentierte Felice in dieser Beziehung den mütterlichen Pragmatismus, der auf soziale Sicherheit und Verantwortlichkeit pocht, während Kafka das Projekt der einsamen, asozialen Selbstverwirklichung verfolgte, jene Fluchtlinie, auf der zehn Jahre zuvor Carl Bauer einige Schritte gewagt hatte. Musste sie ihn dafür nicht lieben – entgegen dem eigenen Gesetz?
Die überkommenen Nachrichten aus dem Innern ihrer Familie sind {189} zu spärlich, um mehr als eine Hypothese zu formulieren. Und Kafka hütete sich, die tiefen familiären Bindungen Felices anzutasten. So erfuhr er vielleicht allzu wenig, und ihm entging Wesentliches, das man nicht aus Briefen erfährt. Doch er spürte den Widerstand. Gut gesichert war die Tür zur Wohnung der Geliebten.
{210} Aus dem Leben der Metaphern:
DIE VERWANDLUNG
Strange events permit themselves the luxury of occurring.
Charly Chan
»As Gregor Samsa awoke one morning from uneasy dreams he found himself transformed in his bed into a gigantic … « Kafka stockt, grübelt, doch trotz verbissener Anstrengung will ihm durchaus nicht einfallen, in was sein Held sich verwandelt haben könnte. So jedenfalls in Peter Capaldis Oscar gekröntem Kurzfilm It’s a Wonderful Life (1993), in dem dann erst eine über das Manuskriptblatt spazierende Küchenschabe dem gequälten Autor zur entscheidenden Eingebung verhilft.
Selbst wenn wir nicht über die Fülle biographischer Einzelheiten verfügten, welche die BRIEFE AN FELICE uns erschließen, wäre doch eines gewiss: dass sich die Geburt der wohl berühmtesten Erzählung des zwanzigsten Jahrhunderts bestimmt nicht auf diese Weise abgespielt hat. Keiner von Kafkas literarischen Versuchen wurde in Gang gesetzt durch einen körperlosen Gedanken, eine allgemeine Idee oder gar durch das spröde Skelett einer äußeren Handlung, und niemals wäre er auf den Gedanken verfallen, passende Bilder und Metaphern gleichsam wie nachträgliche Illustrationen zu behandeln oder gar zu suchen . Am Anfang – so lautet das erste Gesetz in Kafkas Universum – steht das Bild, und nicht wenige seiner Texte lassen sich als Ausfaltungen eines einzigen, denkwürdigen Bildes lesen, als Demonstration dessen, was ein Bild ›hergibt‹.
Seit langem vertraut, wahrscheinlich noch von der Kindheit her, war Kafka das Bild des zum Tier degradierten Menschen, das der mit krassen Schimpfworten freigebige Vater schon gewohnheitsmäßig gebrauchte. Die ungeschickte Köchin war ein »Vieh«, der schwindsüchtige Ladengehilfe ein »kranker Hund«, der am Esstisch kleckernde {211} Sohn ein »großes Schwein«. »Wer sich mit Hunden zu Bett legt, steht mit Wanzen auf«, hatte Hermann erst ein Jahr zuvor über Jizchak Löwy geflucht, und das war beileibe nicht das erste Mal gewesen, dass Kafka dieser Satz in den Ohren schmerzte – freilich das erste Mal, dass er dagegen protestierte.
Früh schon muss sich für Kafka das Bild des Tieres mit der Vorstellung einer entsetzlichen Nichtigkeit verbunden haben; und dass es nicht nur im Munde des Vaters, sondern ebenso in der Wirklichkeit ein Fluch war, Tier zu sein, kann dem aufmerksamen Kind nicht entgangen sein. Geschundene Pferde gehörten noch in den neunziger Jahren zum Straßenbild der
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