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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Schlafengehn Deinen Vorrat an Aspirintabletten aus dem Fenster werfen.« [116]  
    Zwei Imaginationen, zwei Bilder des Weiblichen, die Behütende und die Behütete. Ein Widerspruch, eine Ambivalenz, unaufhebbar, solange Kafkas Verschmelzungswunsch sich auf beide Figuren richtete. Er spürte die Spannung, wandte sich mal der einen, mal der anderen zu, je nachdem, in welche Richtung die Fieberkurve ihrer Beziehung zeigte. Und vielleicht war es diese leichte Möglichkeit des Ausweichens, des Übergangs von einer Imago zur anderen, die ihn zu lange daran hinderte, das Versprechen von Nähe, das er fortwährend bekräftigte, auch einzulösen.

    Einmal sind sich die starke und die schwache Felice begegnet. Sie schickte ihm ein Kinderbild, auf dem sie als etwa zehnjähriges Mädchen zu sehen war. Kafka war fast zu Tränen gerührt – »Die schmalen Schultern! So schwach und leicht zu fassen ist sie!« –, und sogleich erkannte er, dass dieses Mädchen es war, das, »ohne es bisher erklärt zu haben, sich in Hotelzimmern zu ängstigen pflegt«. Sofort schickte Felice ihm ein weiteres Foto – in kleiner, paradoxer Eifersucht, wer weiß –, das sie als erwachsene Frau in ungezwungener Haltung zeigte. Und plötzlich war sich Kafka nicht mehr sicher:
»Mit der neuen Photographie geht es mir sonderbar. Dem kleinen Mädchen fühle ich mich näher, dem könnte ich alles sagen, vor der Dame habe ich zuviel Respekt; ich denke, wenn es auch Felice ist, so ist sie doch ein grosses Fräulein, und Fräulein ist sie doch keineswegs nur nebenbei. Sie ist lustig, das kleine Mädchen war nicht traurig, aber doch schrecklich ernsthaft; sie sieht vollwangig aus (das ist vielleicht bloss die Wirkung der wahrscheinlichen Abendbeleuchtung) das kleine Mädchen war bleich. Wenn ich zwischen beiden {154} im Leben zu wählen hätte, so würde ich keineswegs ohne Überlegung auf das kleine Mädchen zulaufen, das will ich nicht sagen, aber ich würde doch, wenn auch sehr langsam, nur zum kleinen Mädchen hingehn, allerdings immerfort nach dem grossen Fräulein mich umsehn und es nicht aus den Augen lassen. Das Beste wäre freilich, wenn das kleine Mädchen dann mich zu dem grossen Fräulein hinführen und mich ihm anempfehlen würde.« [117]  
    Zwei Fotografien in seinen Händen, das Mädchen und das Fräulein. Beide schauten ihn an. Sein Blick wanderte von einer zur anderen, er versuchte, die Bilder zu überblenden. Es gelang nicht, irgendwann würde er wählen müssen.

{182} Die Familie Bauer
Die Menschen sind nicht schlecht, wenn sie viel Raum haben.
Joseph Roth, HOTEL SAVOY
    Felice Leonie Bauer, genannt »Fe«, wurde am 18.November 1887 im oberschlesischen Neustadt geboren. Ihr Vater Carl Bauer, der aus Wien stammte, hatte die Tochter eines in Neustadt ansässigen Färbers namens Danziger geheiratet. Die Danzigers waren, wie unter Juden dieser Generation noch weithin üblich, eine kinderreiche Familie mit fünf Söhnen und vier Töchtern. Es ist daher nicht sehr wahrscheinlich, dass Anna Danziger, die bei der Heirat schon über dreißig Jahre alt war, eine nennenswerte Mitgift in die Ehe einbringen konnte. Für die Gründung einer eigenen Unternehmung reichte es jedenfalls nicht: Carl Bauer blieb in abhängiger Stellung, er arbeitete als Vertreter und war häufig auf Reisen, die ihn bis nach Holland und Skandinavien führten. Was er damals verkaufte, ist nicht überliefert; nach der Jahrhundertwende waren es Versicherungen der ›Iduna‹.
    Felice war das vierte von fünf Kindern: 1883 kam ihre Schwester Else zur Welt, 1884 der einzige Bruder Ferdinand (›Ferri‹), 1886 wurde Erna geboren, und 1892 – da war die Mutter bereits 42 Jahre alt – folgte noch die jüngste Schwester Toni. Dieser Haushalt muss sehr stark von Frauen geprägt gewesen sein – nicht nur wegen der ständigen, oft viele Wochen dauernden Abwesenheit des Vaters, sondern auch wegen dessen nur schwach ausgeprägtem patriarchalischen Familiensinn. Carl Bauer war ein gutmütiger, aber wenig profilierter Charakter, leicht beeinflussbar, allen Verführungen des Lebens aufgeschlossen, immer zu Späßen aufgelegt, ein Vater, der die Schulaufgaben der Kinder erledigte und ihnen von unterwegs launige Briefe schickte, der bei der Lektüre eines Romans weinen konnte, der aber auch die Freiheiten des ›Außendienstes‹ durchaus zu schätzen wusste. {183} Zweifellos wurde dieser wenig erfolgreiche, aber milde Vater von seinen Kindern nachhaltig idealisiert, denn er bildete den

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