Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Gegenpol zu einer strengen und dominanten Mutter und hatte immer aufregende Dinge zu erzählen, während Anna die Zwänge des Alltags verkörperte. Diese Mutter verfocht äußerst konservative Vorstellungen über die Rolle der Frau in der Familie, und diese Ideologie hielt sie auch unter völlig veränderten Lebensbedingungen aufrecht und versuchte, sie an ihre Töchter weiterzugeben. Man muss sie sich wohl als typische Vertreterin einer jüdischen Generation des Übergangs vorstellen, die noch in der Orthodoxie wurzelte und einen Restbestand jüdischer Kultur und Familienmoral zu bewahren suchte, während sie gleichzeitig die Normen einer ›christlich‹-bürgerlichen Reputation schon weitgehend verinnerlicht hatte. Rigoros verteidigte sie die Familie als identitätsstiftende Gruppe, Alleingänge versuchte sie zu unterbinden, und die obligatorischen Familienbesuche bei Onkeln und Tanten, die den Zusammenhalt des Clans rituell bekräftigten, waren allemal wichtiger als jegliche Form von ›Selbstverwirklichung‹. Die Lebenstüchtigkeit und Belastbarkeit Felices dürfte ihrem Erziehungsideal genau entsprochen haben – aber sie war unfähig zu der Einsicht, dass die verantwortliche Tätigkeit einer Prokuristin nicht zu vereinbaren ist mit der matriarchalen Tyrannei, der die ewig strickenden und häkelnden Töchter ihrer eigenen Generation ausgesetzt waren. Felice, die während ihres langen Arbeitstags fortwährend mit Männern zu verhandeln hatte, konnte beim Familienurlaub am Strand keinen unbeobachteten und unkommentierten Blick mit prospektiven Verehrern wechseln. Selbst Kafka fragte einmal verwundert, ob denn in der Familie Bauer die wirtschaftliche Selbständigkeit der erfolgreichsten Tochter gar nicht respektiert werde. [147]
Die Fliehkräfte zwischen traditionell jüdischer Häuslichkeit, bürgerlichen Sozialnormen und der Rationalität der modernen Berufswelt müssen spätestens mit der Übersiedelung der Familie nach Berlin im Jahr 1899 schmerzhaft spürbar geworden sein. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung betrug damals in Groß-Berlin etwa 5 Prozent, in dem Bezirk, in dem sich die Bauers niederließen (der spätere Prenzlauer Berg), mehr als 6 Prozent. Von diesen waren aber nur etwa ein Drittel in Berlin geboren, die Übrigen waren Zuwanderer. Von der aus der schlesischen Kleinstadt gewohnten Homogenität jüdischer Lebens- und Verhaltensweisen konnte hier also keine Rede mehr sein, {184} und in der Synagoge wurden Dialekte gesprochen, die man nie zuvor vernommen hatte. Es ist ein historisch vertrautes Phänomen, dass sich unter Zuwanderern in einer solchen Situation Generationenkonflikte entwickeln, die nicht selten in wechselseitige Entfremdung und Sprachlosigkeit münden: Während die Jüngeren die schockhafte kulturelle Vielgestaltigkeit der Umgebung und die damit verbundenen Freiheiten genießen, klammern sich die Älteren an den Clan und an kultische Traditionen – ein Verhalten, das besonders unter Juden nahe liegt, da ja hier der Kultus wesentlich ist für den Zusammenhalt und die Selbstvergewisserung der Familie. Es ist unwahrscheinlich, dass bei den Bauers in Berlin noch koscher gekocht wurde, doch gehörten sie keinesfalls zu den ›Dreitagejuden‹, die sich nur noch an den höchsten Festtagen im Tempel blicken ließen. Im Bücherschrank standen Schillers Werke einträchtig neben Heinrich Graetz’ VOLKSTÜMLICHER GESCHICHTE DER JUDEN und dem hebräischen Gebetbuch. Noch in den zwanziger Jahren hatte Anna Bauer Funktionen in der jüdischen Gemeinde inne, und dass Kafka keine Glückwünsche zum jüdischen Neujahrsfest übersandte, galt ihr als Affront.
Die wachsende Spannung zwischen Tradition und urbanem Umfeld hätte die Familie Bauer wohl noch stärker belastet, hätten sich den Töchtern bessere Bildungschancen eröffnet. Doch dieser Horizont war institutionell noch eng umgrenzt. Else, Erna, Felice und Toni kamen um eine halbe Generation zu früh, keine von ihnen hatte die Möglichkeit, ein Gymnasium zu besuchen. Erst 1893 – damals war Felice sechs Jahre alt, Else schon zehn – wurde im Deutschen Reich der erste Gymnasialkurs für Mädchen eingerichtet (freilich weder in Breslau noch in Berlin, sondern in Karlsruhe). Zwei Jahre später wurden die ersten Frauen als Gasthörer an Universitäten zugelassen, Frauen zumeist, die mit immens teurem Privatunterricht zum externen Abitur gelangt waren (ein prominentes Beispiel ist Katia Pringsheim, die spätere Ehefrau Thomas Manns).
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