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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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hinwegsehen? Das hätte sein Begehren nach lebendiger Nähe geradezu konterkariert. Denn Kafka selbst war es ja, der Fakten und immer wieder Fakten verlangte und damit eine Art Selbstaufklärung betrieb, die jeden Rückzug in allzu regressive Wunschvorstellungen versperrte.
    Wie Kafka diesen Konflikt letztlich löste, ist nur zu verstehen, wenn man den Spuren der für ihn charakteristischen bildhaften Logik folgt. Die Fragmente der Wirklichkeit, die er in sich aufnahm, ordneten sich ihm nicht in den übersichtlichen Mustern sozialer oder gar weltanschaulicher Denkformen. Es ist kein Zufall, dass in seinen Tagebüchern, in denen sich ein ganzes Arsenal menschlicher Gesten präzis beschrieben findet, das Wort »typisch« nur ein einziges Mal vorkommt. Kafka typisierte nicht, sondern verdichtete die erfahrene Wirklichkeit in Gestalt signifikanter Bewegungen, Bilder und Szenen. So vergegenwärtigte er sich immer wieder bestimmte Gesten und Blicke, die er an Felice beobachtet hatte, machte gleichsam die Geste zum Substrat der Person. Daher sein süchtiges Interesse an Fotografien, auf denen er die ›starke Felice‹ wiederzuerkennen hoffte. Traten zu seinen Erinnerungen neue Erfahrungen hinzu, so versuchte er, sie in die bereits eingebrannten Bilder zu integrieren, sodass sich nach {152} und nach eine stumme szenische Sequenz herauskristallisierte – etwa so, wie man sich an eine vor langer Zeit verstorbene Person erinnert und dabei fortwährend dieselben wenigen Sekunden vor Augen hat, einen Kurzfilm, der vielleicht aus der Überlagerung ganz verschiedener Augenblicke hervorging.
    Kafka hat sich mit Vorliebe der Eigendynamik solcher szenischer Konstruktionen überlassen, und was man häufig die Traumlogik seiner Werke genannt hat, beruht wesentlich auf der unbewussten Wirkung bildhafter Verdichtungen. Diesem Spiel waren jedoch im wirklichen Leben enge Grenzen gezogen. Die Vorstellung einer weinenden Felice war beim besten Willen nicht mit der szenischen Imagination zu vereinbaren, die Kafka aus der Erinnerung eines einzigen Abends herausgesponnen hatte. Das beschäftigte und irritierte ihn so, dass er einmal gar das Weinen als ihren »einzigen Fehler« bezeichnete. Doch was hinderte ihn, diese Schwäche zum Kern einer neuen szenischen Gestalt zu machen?
    Genau so kam es, und bereits in den ersten Wochen der Korrespondenz begann unter dem Druck der Wirklichkeit ein ganz anderes Abbild Felices sich herauszukristallisieren, eine, wenn man so will, zweite Projektion, an die sich dann eigene szenische Phantasien anlagerten. »Liebes Fräulein Felice!«, schreibt er Anfang November. »Aber man zerreisst Sie ja vor meinen Augen! Geben Sie sich nicht mit zuviel Menschen ab, mit unnötig vielen?« »Ich bin da ein wenig lehrhaft, ohne von der Sache viel zu wissen und zu verstehn, aber Ihr letzter Brief ist so nervös, dass man das Verlangen bekommt, Ihre Hand einen Augenblick lang festzuhalten.« Eine ›schwache Felice‹ betritt hier die Bühne, der Kafka nur eine Woche später schon sehr nahe gerückt ist: »Merke, Du musst mehr schlafen als andere Menschen, denn ich schlafe ein wenig, nicht viel weniger als der Durchschnitt. Und ich weiss mir keinen bessern Ort, um meinen ungenützten Anteil am allgemeinen Schlaf aufzubewahren, als Deine lieben Augen. Und bitte keine wüsten Träume! Ich mache in Gedanken einen Rundgang um Dein Bett und befehle Stille.« [115]  
    Auch der Schlaf ist eine Geste. An ihr entzündeten sich Phantasien des Behütens und Bemutterns, die am Bild des selbstbewusst reisenden Fräuleins keinen Halt fanden. Kafka erschrak, als die Schwächen Felices offenbar wurden. Doch anstatt ihre idealisierte Gestalt zu revidieren, verfiel er schließlich auf eine zweite, parallele Imagination, {153} in der sich alles, was schwach an ihr war, bildhaft verdichtete: das schlafende Mädchen.
» … ich könnte nicht ruhig arbeiten, wenn ich weiss, dass Du noch wachst und gar meinetwegen. Weiss ich aber dass Du schläfst, dann arbeite ich desto mutiger, denn dann scheint es mir als seiest Du ganz meiner Sorge übergeben, hilflos und hilfebedürftig im gesunden Schlaf, und als arbeite ich für Dich und für Dein Wohl. Wie sollte bei solchen Gedanken die Arbeit stocken! Schlaf also, schlaf, um wie viel mehr arbeitest Du doch auch während des Tages als ich. Schlaf unbedingt schon morgen schreib mir keinen Brief mehr im Bett, schon heute womöglich nicht, wenn mein Wunsch Kraft genug hat. Dafür darfst Du vor dem

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