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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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definierbare Grenze zwischen Normalität und geistiger Krankheit überhaupt nicht gibt, war eine viel diskutierte, aber längst nicht mehr ernsthaft bestrittene Tatsache. Die Freudschen »Fehlleistungen«, beliebter Unterhaltungsstoff in allen Prager und Wiener Literatencafés, konnte jeder an sich selbst beobachten, und diese punktuellen geistigen Entgleisungen führten drastisch vor Augen, dass hinter dem Bewusstsein auch des gesündesten und ausgeglichensten Menschen unkontrollierbare psychische Kräfte lauern, die jederzeit hervorbrechen können. Wer Freuds Arbeiten selbst gelesen hatte, wusste, mit welcher Überzeugungskraft die psychoanalytische Theorie von pathologischen Erscheinungen auf das ›normale‹ Funktionieren der psychischen Instanzen zu schließen vermochte – gerade so, als sei das Normale nur ein ideeller Grenzwert des Pathologischen.
    Das waren Ideen, mit denen Kafka sicherlich längst vertraut war – auch wenn er, wie er gegenüber Willy Haas noch im Sommer eingeräumt hatte, »leider wenig« von Freud, doch immerhin »viel von seinen {232} Schülern« kannte. [194]   Freuds Entmachtung des Bewusstseins nicht zur Kenntnis zu nehmen, war im intellektuellen bürgerlichen Milieu der Vorkriegszeit schlechterdings unmöglich. Freilich war damit noch längst nicht ausgemacht, wie man sich zu den konkreten Formen geistiger Krankheit lebenspraktisch und ethisch zu stellen hatte. Vor allem das Geheimnis des Wahns – oder des Wahn systems – war noch nahezu unangetastet, mochte die Psychoanalyse dessen Vorhof ausdehnen, soweit sie wollte. Der Wahn konnte ausbrechen wie eine Naturgewalt (Shakespeares LEAR) oder in Gestalt einer kläglichen fixen Idee (Dostojewskis DOPPELGÄNGER): In jedem Fall repräsentierte er eine radikale Position, das Ergebnis äußerster Konsequenz und damit gewissermaßen eine Leistung, die Scheu einflößte und die, so grausig hier das Erhabene mit dem Lächerlichen sich verband, unmöglich als bloßes Defizit abgetan werden konnte.
    Freud hat erst relativ spät, im Sommer 1911, sich grundlegend zur Frage der Paranoia geäußert. Sein Versuch, den Mechanismus der Wahnbildung am berühmten Fall des Senatspräsidenten Dr.jur. Daniel Paul Schreber zu analysieren, gilt heute in vielen Einzelheiten als unzulänglich, ja dubios, zumal Freud hier erstmals eine Deutung ausschließlich aufgrund von schriftlichen Zeugnissen riskierte, ohne dem Patienten je begegnet zu sein. Dieser notwendige Vorbehalt berührt jedoch nicht die Kernthese, auf die seine Studie zusteuert und die als eine Einsicht von anthropologischer Dimension wirksam geblieben ist. Diese These lautet, dass der Einsturz einer konsistenten, realitätsgerechten inneren Welt, den wir gemeinhin mit dem Wahn gleichsetzen, tatsächlich diesem vorausgeht. Die Katastrophe selbst bleibt unsichtbar, und was wir erleben, ist nicht der Untergang, sondern die Wiederauferstehung des Kranken, der eine neue Welt aus den Trümmern der alten errichtet. Freud selbst hat den entscheidenden Satz hervorgehoben: »Was wir für die Krankheitsproduktion halten, die Wahnbildung, ist in Wirklichkeit der Heilungsversuch, die Rekonstruktion.« [195]  
    Kafka wird diese Arbeit, die ja vorläufig nur in einer medizinischen Fachpublikation zu lesen war, kaum gekannt haben. Dennoch spricht einiges dafür, dass er die beiden Seiten des Verrücktseins, den Zerfall des Ichs und dessen Rekonstruktion, die bei Freud als zwei Phasen einander ablösen, instinktiv unterschieden und auf beide in ganz verschiedener Weise reagiert hat. Menschen mit ausgeprägten {233} fixen Ideen flößten ihm weder Furcht noch Widerwillen ein, selbst dann nicht, wenn die Grenzzone zum Wahn schon eindeutig durchschritten war. Im Gegenteil beobachtete er die Selbstgewissheit und Überzeugungstreue, die solche Kranken ausstrahlen, mit Neugierde und latenter Bewunderung. Als ihn im Februar 1912 ein unbekannter Mann auf der Straße ansprach und um juristischen Beistand bat – er fühlte sich als Opfer eines Plagiats –, notierte Kafka das lange Gespräch mit dem offenbar von einem Beziehungswahn besessenen »Recitator« in allen Einzelheiten und mit starker Empathie; zwei Abende lang beschäftigte er sich im Tagebuch mit dem Vorfall, und offenbar zog er sogar noch Erkundigungen ein, denn er erfuhr, dass sein neuer Bekannter schon am Tag nach der Begegnung »ins Irrenhaus gekommen« war. Sein Fazit, »wie erfrischend es ist, mit einem vollkommenen Narren zu reden«, wirkt

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