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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Verfassung er dort ankommen würde? Und selbst, wenn die erste Begegnung glücklich verliefe – nach den Erfahrungen der letzten Zeit gab es keinerlei Gewissheit, dass die Depression ihn nicht schon am nächsten Tag ans einsame Hotelbett fesseln würde, ausgelöst vielleicht durch irgendein hingeworfenes Wort Felices. Das waren nicht mehr die nervösen »Launen«, die er in seinem zweiten Brief komisch-resignierend eingestanden hatte, das waren Stimmungsschwankungen, die ihn binnen Stunden von einem Extrem ins andere warfen, ihn bis an {230} den Rand der Auflösung führten. » … ich werde nicht leiden, wenn kein Brief kommt«, versicherte er, nachdem sie sein Du erwidert hatte, und »Liebste, nicht so quälen!« hieß es schon zwei Tage später, als der gieriger denn je erwartete Zuspruch tatsächlich ausblieb. [190]  
    Kein Zweifel, dass Kafka diesen zunehmenden Verlust psychischer Integrität als äußerst bedrohlich empfand. Auch wenn aus jener Zeit keine Tagebuchaufzeichnungen überliefert sind – wann hätte Kafka noch Tagebuch führen sollen? –, so blieb er dem alten Laster der Selbstbeobachtung doch treu, und was er beobachtete, musste selbst ihm die Frage aufnötigen, ob es nicht schon ›krank‹ sei, was in seinem Kopf sich abspielte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Kafka begründete Furcht, verrückt zu werden oder es schon zu sein. Und ununterscheidbar mischte sich in diese Furcht die bestimmte Erwartung, man werde ihm diese Verrücktheit nun bald auch ansehen.
    »Jetzt werde ich Ihnen eine Bitte vortragen, die wahrhaft wahnsinnig aussieht, und ich würde sie nicht anders beurteilen, wenn ich den Brief zu lesen bekäme.« Das war am 11.November 1912, und wenige Sätze später nennt er sie plötzlich »Du«, nachdem er darum gebeten hat, einander nur noch einmal wöchentlich zu schreiben. Wahnsinn? Drei Tage später war sich Kafka schon nicht mehr so sicher, ob es nur so aussah : »Aber sag nur, woher weisst Du, dass das, was ich Dir hie und da in der letzten Zeit geschrieben habe, Qual und nicht Irrsinn gewesen ist. Es sah aber doch sehr nach dem letzten aus … « Auch diese notdürftige Selbstdistanzierung gibt Kafka schließlich auf; er spricht von »wahnsinnigem Leid«, vom »Irrsinn der vielen Briefe«, von »Verfolgungswahnsinn« und von »irrsinniger Nähe«. Felices Eltern halten ihn wahrscheinlich »für nahe dem Irrsinn«, und das zu Recht, denn: »Es ist etwas vom Irrenhaus in meinem Leben.« Noch Monate später zählt er die beständige »Nähe des Irreseins« zu den Leiden, die allein zu ertragen auf Dauer wohl unmöglich sein werde. Da war es nur ein fragwürdiger Trost, dass, wer »nahe am Irresein, also an den Grenzen seines Daseins« ist, gerade deshalb »einen ganzen Überblick über sich hat«. [191]  
    Ein derart beharrliches Umspielen und Variieren eines Begriffs ist bei Kafka stets ein sicheres Anzeichen heftiger Gedankenarbeit – wobei es durchaus sekundär ist, ob man die einzelne Äußerung wortwörtlich, ironisch oder taktisch zu verstehen hat. Die Melodie ist hier entscheidend, nicht die Note. Und diese Melodie war neu, sie kreiste {231} nicht mehr um Metaphern, nicht um den Aberwitz des Junggesellendaseins oder um das Doppelleben zwischen Büro und Literatur, aus dem es, wie Kafka noch im Jahr zuvor seinem Vorgesetzten klagte, »wahrscheinlich nur den Irrsinn als Ausweg gibt«. [192]   Diesmal ging es um wirklichen, unumkehrbaren Verfall.

    Angst vor dem Wahnsinn ist eine geläufige Erscheinung unter Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen, verbreitet vor allem unter denen, die ästhetisch exponierte Positionen beziehen. Kierkegaard hat diese Qual gekannt, Georg Heym, Peter Altenberg, Robert Walser, aber auch Wittgenstein. »Sagen Sie mir, daß ich nicht irre bin«, bat Georg Trakl in einer der finstersten Stunden seines Lebens, und das war keinesfalls Rhetorik. [193]   Dass man die Grenzlinie überschreiten und dennoch zurückkehren kann, bewies Strindberg; Nietzsche hingegen erlag dem Sog der ›Umnachtung‹, was Kafka schon als Gymnasiasten tief beunruhigt haben muss. Es hatte, wer weiß, eine versteckte Bedeutung, dass er ausgerechnet Goethes TASSO zum Thema eines Referats wählte.
    Doch auf den abgestandenen Topos von der unvermeidlichen Nähe zwischen Kreativität und Wahnsinn brauchte er jetzt, da es ernst wurde, gar nicht mehr zu rekurrieren; da hatte die zeitgenössische Psychologie schon Triftigeres zu bieten. Dass es eine eindeutige,

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