Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
sich entschieden hatte – wie dumm würde das nun aussehen. Und gerade heute hatte man in Berlin gewiss an anderes zu denken als an ihn. Frau Bauer, die Mutter, hatte Geburtstag, und morgen Felice selbst. Wahrscheinlich war dort längst ein Kommen und Gehen zahlloser Verwandter, denen man die Rosen weder erklären konnte noch wollte.
Am Abend würde er die neue Geschichte niederschreiben, eine »kleine Geschichte«, wie er noch eine ganze Zeitlang glaubte. Wenn ihm nur noch einmal eine Nacht vergönnt wäre wie die, in der DAS URTEIL aufs Papier geströmt war … »zweimal 10 Stunden« wünschte er sich für DIE VERWANDLUNG, »höchstens mit einer Unterbrechung«; nur dann hätte die Geschichte »ihren natürlichen Zug und Sturm« [187] . Und daneben noch ein wenig den VERSCHOLLENEN am Leben erhalten. Aber Kafka täuschte sich ganz und gar über die Kräfte, die das neue innere Szenario ihm abverlangte, und hätte er geahnt, dass es ihn nahezu drei Wochen lang von seinem Roman fernhalten würde, hätte {226} er vielleicht verzichtet. Hatte er nicht gerade jetzt – unausgeschlafen, traurig, verlassen – die Pflicht, das Letzte festzuhalten, das ein Weiterleben rechtfertigte?
Er wartete noch immer, ließ die kostbaren freien Stunden verstreichen. Endlich, es war schon elf Uhr vorüber, das ersehnte Zeichen an der Tür. Ein Brief, aus Berlin, von ihr.
Auch für Felice Bauer war dieser Sonntagmorgen ein Ereignis, aber ein wenig anders, als es Kafka sich vorstellte. Denn während er aus dem Bett nicht herausfand, fand sie – nicht hinein. Ihre Schlafstätte war unberührt. Sie war tanzen gewesen, die ganze Nacht hindurch, und erst am Morgen um sieben Uhr nach Hause gekommen. Und da die heutigen Feierlichkeiten und Besuche viel häusliches Organisieren verlangten, war an Ausruhen nicht zu denken. Sie zog sich um, frühstückte und machte sich an die Arbeit. Die Mutter war wütend, aber heute, an ihrem Ehrentag, würde sie doch wohl keine Szene machen. Umso wohler tat es, ihr zu demonstrieren, dass man eine durchtanzte Nacht mit 25 Jahren noch durchaus vertragen konnte. Aber es war schwer, und es sollte ein langer, sehr langer Sonntag werden.
Als Felice in der folgenden Nacht um ein Uhr endlich ins Bett sank, nahm sie vielleicht noch einmal die sonderbare Karte vor, die man ihr heute, zusammen mit einem Strauß Rosen, überreicht hatte. Ein Satz stand dort geschrieben, wie aus einer anderen Welt: »Für das, was in einem einzigen Menschen Platz hat, ist die Aussenwelt zu klein, zu eindeutig, zu wahrhaftig.« [188] Das wusste auch sie, manchmal. Und während sie einschlief, eilte in Prag eine Feder übers Papier, und eine große Erzählung begann.
{227} Die Angst, verrückt zu werden
Bei ihm handelte es sich immer um ein Wiederaufsuchen der Festigkeit bei häufiger Einbuße derselben.
Robert Walser, ERICH
›Was machst Du eigentlich in den Weihnachtsferien?‹ Das hatte Kafka kommen sehen. Er selber dachte ja immer wieder an die näher rückenden Festtage, er sehnte sich nach Erholung, nach ein paar entspannten Stunden, in denen er sich wieder einmal ganz dem Roman widmen und nebenbei vielleicht auch ein wenig Schlaf nachholen konnte. Einen einzigen freien Werktag hatte er sich erschwindelt seit der Rückkehr aus den Sommerferien, es war der Tag nach jener wunderbaren durchschriebenen Nacht im September gewesen, doch diesen Handstreich zu wiederholen hatte er dann doch nicht gewagt. Und so hielt er sich an den Trost, dass ihm für 1912 noch immerhin drei ›Ferialtage‹ zustanden – sein im Augenblick kostbarstes Kapital, dessen Verwendung sorgfältig bedacht sein wollte.
Weihnachten lag günstig in diesem Jahr, der erste Feiertag fiel auf einen Mittwoch, und so war es durchaus möglich, sich eine ganze bürofreie Woche zu verschaffen. Die wollte Kafka dem VERSCHOLLENEN widmen, das stand seit langem fest. Und wenn er auch seine ursprüngliche Hoffnung, den Roman noch in diesem Jahr zu vollenden, mehr und mehr schwinden sah – allzu lange schon hielt ihn DIE VERWANDLUNG von der ›eigentlichen‹ Arbeit ab –, so blieb er doch entschlossen, sein stockendes Hauptwerk bald wieder einmal durch einen Schub gesammelter Konzentration zu beleben.
Aber war es denn nicht viel dringlicher, endlich Felice wiederzusehen? Und sich endlich auch einmal sehen zu lassen ? Sicher, es war ein prickelnder, jungenhafter Genuss, Fotos mit ihr auszutauschen; doch während jedes aus Berlin empfangene Bild die Erinnerung an
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