Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
Vom Netzwerk:
dieses Anklopfen, das konnte man denn doch nicht ignorieren. Eine Aufforderung, so schicklich wie noch eben möglich. Vier Wochen waren es noch, so lange durfte er Felice nicht hinhalten. Eine glaubhafte Ausrede gab es eigentlich auch nicht. Und außerdem hatte {237} er Lust, wirkliche Lust, sie zu sehen, er spürte es durch alle Aufregungen, Ängste und Bedenklichkeiten hindurch. Sollte denn die Kraft für ein paar Tage Berlin wirklich nicht mehr reichen? Doch.
»Sieh, ich war entschlossen mich vor Beendigung des Romans nicht vor andern Menschen zu zeigen, aber ich frage mich, heute abend allerdings nur, würde ich nach der Beendigung vor Dir Liebste etwa besser oder weniger schlecht bestehen als vorher. Und ist es nicht wichtiger, als der Schreibwut die Freiheit von 6 fortlaufenden Tagen und Nächten zu geben, meine armen Augen endlich mit Deinem Anblick zu sättigen? Antworte Du, ich sage für mich ein grosses ›Ja‹.« [202]  
    Ohne einen letzten Vorbehalt ging es auch diesmal nicht, und weil Felice Vorbehalte gerne überlas, machte er noch einen dicken Strich darunter. Vergeblich. Denn sie war einverstanden, drängte zwar nicht, ließ aber alle Möglichkeiten in der Schwebe, sodass Kafka wieder heftiger zu träumen begann, weit über Weihnachten hinaus: An einen Landaufenthalt dachte er, an gemeinsame Sommerferien, ja sogar »an die weitern Jahre«. Immer wieder spielt er auf die bevorstehende Reise an, die ihn jetzt wirklich umtreibt, und die Intensität der Szenen, die er vorwegnehmend phantasiert, lässt ihn erneut daran zweifeln, ob jener warme Nebel aus Worten, der ihn seit Wochen umgibt, das lebendige Feuer der Begegnung tatsächlich ankündigt und nicht in Wahrheit erstickt: »Hätte ich die Zeit, während welcher ich Briefe an Dich geschrieben habe, zusammengeschlagen und zu einer Reise nach Berlin verwendet, ich wäre längst bei Dir und könnte in Deine Augen sehn.« [203]  
    Das klang vernünftig, sogar ein wenig berechnend. Aber Kafka wollte jetzt vernünftig sein. Denn Felice hatte einen wunderbaren Vorschlag gemacht, einen Vorschlag, in dem Pragmatismus und Instinkt auf verblüffende Weise zusammenstimmten: Es solle doch, so ihr Gedanke, jeder versuchen ruhig zu sein um des anderen willen . Tatsächlich, das war es. Darauf wäre er nie gekommen; es klang so einfach, dass er den zarten, darin verborgenen Vorwurf gar nicht bemerkte. Und Kafka ergriff diesen Strohhalm, versprach sogar, mit den Quälereien und den ständigen Klagen um ausgebliebene Briefe jetzt aufzuhören – wenigstens so lange, bis man in Berlin sich endlich sehen würde, denn dort, so glaubte er, konnte ja jedes zugefügte Leid sofort und auf der Stelle wiedergutgemacht werden. » … und von nun an ruhige Briefe, wie es sich gehört, wenn man an die Liebste schreibt, die man streicheln und nicht peitschen will.« [204]  
    Tatsächlich sind etliche der Briefe, die Kafka in den folgenden Wochen schreibt, von einer Munterkeit, der man den Vorsatz leider allzu sehr anmerkt. Verdächtig oft, geradezu beschwörend hält er ihr die geforderte »Ruhe« entgegen; mit der ganzen Kraft der Autosuggestion versucht er, das heftig ausschlagende innere Pendel zu bändigen, beschließt sogar, die Korrespondenz auf einen Brief täglich einzuschränken, um sich nicht alle paar Stunden wieder losreißen zu müssen aus der erträumten Symbiose.

    Warum nur war bei Max alles um so vieles einfacher? Gewiss, auch er kämpfte seit Monaten mit der Frage, ob er die kleine Elsa Taussig heiraten solle oder nicht. Aber das war nicht die Angst vor dem Versagen, vielmehr die gewöhnliche Unruhe, die gar nicht ausbleiben konnte, wenn man liebgewonnene Freiheiten gegen neue Verbindlichkeiten eintauschte. Das würde sich legen. Kafka, der die dunklen, schwierigen Seiten Elsas wahrscheinlich unterschätzte und sie nur als sanfte, stille, dem Freund fast schon zu sehr ergebene Frau kannte – er riet bedenkenlos zu. Natürlich musste Max heiraten, sich von den Eltern lösen, eine eigene Familie gründen, seine Existenz verbreitern, das war doch das Selbstverständliche. Weiter hatte Kafka noch nicht gedacht. Und wozu auch? In irgendwelche Sorgen mit Frauen war Brod andauernd verstrickt; entsetzlich eifersüchtig war er, aber entschlussunfähig doch niemals. Diese Qual kannte er gar nicht, er würde sich schon zu helfen wissen. Und tatsächlich: Nachdem Brod einmal zur Ehe bereit war, packte er das Problem auf die allerpraktischste Weise an, und alles ging

Weitere Kostenlose Bücher