Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
ihre leibhaftige Erscheinung mit neuen, feiner abgestuften Farben übermalte, {228} war es für Felice, als blätterte sie im Porträtalbum eines Unbekannten, dessen Stimme und Gestik sich aus den fixierten Augenblicken nur vage erahnen ließ. Während sich Kafka der körperliche Ausdruck zuerst und am tiefsten ins Bewusstsein gesenkt hatte, war es Felice drei Monate nach jener flüchtigen, konventionellen Begegnung wohl kaum mehr möglich, sich Kafka in Bewegung vorzustellen, ja überhaupt ihn als körperliche Präsenz zu erinnern.
Folgt man den Überlegungen Canettis, so kann das Kafka nur recht gewesen sein. Warum sonst hätte er schon in seinem großen Vorstellungsbrief vom 1.November von seiner auffallenden Magerkeit gesprochen, wenn nicht mit der Absicht, seinen Körper von vornherein ›aus dem Spiel‹ zu lassen? Aber, schreibt Canetti kopfschüttelnd, »zur Liebe gehört Gewicht, es geht um Körper. Sie müssen da sein, es ist lächerlich, wenn ein Nicht-Körper um Liebe wirbt.« [189] Ganz recht. Doch wenn ein magerer Körper ein Nicht-Körper ist, dann hätte Canettis Erstaunen noch viel eher Max Brod gelten müssen, der, selbst körperlich behindert, nur zwei Wochen später in aller Unschuld an Felice Bauer schrieb, Kafka habe »an sich einen schwachen Körper«. Als Verrat würde Derartiges gelten im Zeitalter viriler Fitness.
Zum Glück für Brod ist diese Deutung jedoch keineswegs zwingend. Kafka erwähnt seinen Körper gegenüber der fremden Dame zu einem so unpassend frühen Zeitpunkt, dass man von Indiskretion sprechen müsste – beherrschte dieser Körper nicht sein Selbstbild und wäre eben darum eine wahrhaftige ›Vorstellung‹ der eigenen Person unmöglich, ohne auf diesen Körper zu zeigen. Der latente Exhibitionismus, der wie bei allen hypochondrischen Menschen auch bei Kafka gelegentlich befremdet, rührt daher, dass sich der Hypochonder in höchstem Maße über seinen Körper identifiziert. Er kann ihn nicht verschweigen, ohne sich selbst zu verleugnen.
Ob er mit dieser Redseligkeit sozial auffällig wird, ob er zudringlich wirkt oder nicht, entscheidet sich im diskursiven Hintergrundgeräusch seiner Zeit. Kafka lebte in einer patriarchal verfassten Gesellschaft, in der Körperlichkeit zwei grundsätzlich verschiedene und scharf voneinander abgegrenzte Aggregatzustände annehmen konnte: Der weibliche Körper war Fleisch , der männliche hingegen Organ : ein Werkzeug, eine Art Zubehör, dessen erotisches Moment allenfalls noch in pfauenhaften militärischen Kostümierungen aufleuchtete. Solange {229} es nicht unanständig wurde, durfte man sich über diesen Körper auch öffentlich auslassen, und nicht selten sprachen Männer über ihre physischen Beschwerden, als seien die anwesenden Damen allesamt Krankenschwestern. Das erklärt die Unbefangenheit Brods: unvorstellbar, dass er sich gegenüber Felice Bauer zur Sexualität seines Freundes geäußert hätte, durchaus jedoch über dessen Körper, denn das war etwas ganz anderes.
Dass Kafka sich davor fürchtete, nach Berlin zu fahren, hatte eine Reihe leicht nachvollziehbarer Gründe, deren banalster sicherlich die Angst vor sexuellem ›Versagen‹ war – eine nicht ganz unbegründete Angst. Denn so unerträglich ihm der Gedanke gewesen wäre, seine »zärtlichen« und seine »sexuellen Strebungen« lebenslang in verschiedenen Welten zu befriedigen, so wenig konnte er erzwingen, dass sie zur rechten Zeit miteinander verschmolzen. Freilich, um sein noch gar nicht erwachtes Begehren ging es vorläufig nicht, es war sogar gut, Felice damit nicht behelligen zu müssen, und mehr als ein paar harmlose Rendezvous waren in Berlin auch gar nicht zu erwarten. Anstrengend genug konnte es dennoch werden. Denn heimlich würden diese Treffen nicht stattfinden können, dazu war Felice ihrer Familie viel zu sehr verpflichtet, und offen eigentlich auch nicht, denn dann würde sie ihn zu Hause in aller Form einführen müssen: einen Menschen, den sie selbst kaum kannte und den die Mutter allein wegen seiner Briefe schon hasste. Eine komplizierte, gesellschaftlich heikle Situation, die leicht außer Kontrolle geraten konnte. Kafka spürte genau, dass die über Monate hinweg gewachsenen und liebgewonnenen Idealisierungen von den profanen Hindernissen, die in Berlin auf ihn warteten, aufs äußerste gefährdet waren.
Er hatte Angst vor dem Auftritt, Angst, durch Ungeschicklichkeit alles zu verderben, alles zu verlieren. Wusste er denn, in welcher
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