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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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der zweite Tag der VERWANDLUNG – beschließt der von Einsamkeit gepeinigte Kafka allen Ernstes, sich zu seiner »einzigen Rettung« an ebenjenen Hitzer zu wenden. Nur ein gerade noch rechtzeitig eintreffendes Telegramm Felices verhindert, dass Kafka zu Papier und Feder greift und sich eine neue Enttäuschung bereitet.

    »Vor das Außergewöhnliche haben die Götter das Pathologische gesetzt. Zum Schutz der Gewöhnlichen.« Ein Satz Alfred Polgars, dem Kafka entschieden widersprochen hätte. Das Außergewöhnliche war das Einfache, und die Frage, ob diese Einfachheit ein Ergebnis differenziertester künstlerischer Anstrengung war (wie bei Flaubert) oder der dilettantische, aber ungebrochene Ausdruck kultureller Identität (wie im Schmierentheater des Jizchak Löwy), war für ihn durchaus nachrangig. Was er fürchtete und verurteilte, war das Unbeherrschte, das grell Aufgetakelte, die Hysterie, die Zerstörung, das Extrem um seiner selbst willen; und so sehr ihm bewusst war, dass all diese Ausdrucksformen auch letzte Notsignale sein konnten, Abwehrgesten gegen steinerne Verhältnisse und innere Verödung gleichermaßen, so wenig konnte er sich selbst dazu bewegen, näher hinzuschauen – und womöglich mehr Verwandtes zu entdecken, als ihm lieb war.
    Diesen Wahnsinn fürchtete er, den Wahnsinn, der bei keiner Überzeugung, keiner Tätigkeit, keiner menschlichen Beziehung sich beruhigen will, sondern immerfort nur zerstört und alles in den Untergang reißt, was sich ihm nähert. Wo er solche destruktiven Kräfte vermutete, konnte Kafka äußerst ungerecht werden, und die Einfühlung, die er jeder milden und methodisch gezähmten Verrücktheit bereitwillig entgegenbrachte, verweigerte er, sobald er auf gänzlich Unberechenbares stieß. Kaum wiederzuerkennen ist Kafka mit seiner Tirade gegen Else Lasker-Schüler:
»Ich kann ihre Gedichte nicht leiden, ich fühle bei ihnen nichts als Langweile über ihre Leere und Widerwillen wegen des künstlichen Aufwandes. Auch ihre Prosa ist mir lästig aus den gleichen Gründen, es arbeitet darin das wahllos zuckende Gehirn einer sich überspannenden Grossstädterin. Aber vielleicht {236} irre ich da gründlich, es gibt viele, die sie lieben, Werfel z.B. spricht von ihr nur mit Begeisterung. Ja, es geht ihr schlecht, ihr zweiter Mann hat sie verlassen, soviel ich weiss, auch bei uns sammelt man für sie; ich habe 5 K hergeben müssen, ohne das geringste Mitgefühl für sie zu haben; ich weiss den eigentlichen Grund nicht, aber ich stelle mir sie immer nur als eine Säuferin vor, die sich in der Nacht durch die Kaffeehäuser schleppt.« [199]  
    Begegnet war Kafka der in Berlin lebenden Dichterin noch nicht; vielleicht hatte Brod ihm ein paar der konfusen Briefe gezeigt, die er von ihr empfangen hatte (»Lieber Prinz von Prag … «), und über ihre chaotischen Lebensverhältnisse berichteten Werfel und Haas aus eigener Anschauung. Zu wenig eigentlich für ein so dezidiertes Urteil, das als literarisches Verdikt unversehens übergreift auf die Autorin selbst. Kafka weiß, dass er phantasiert, seine Aversion scheint ihm selber fremd und unbegreiflich. Und doch verharrt er in einer Geste der Abwehr, die, gemessen an seinen sonst stets präzisen literarischen Gutachten, geradezu wild erscheint. Er hasst den Eskapismus, das psychotische Moment der wie ein bunter Scherbenhaufen sich auftürmenden Welt der Lasker-Schüler. Er spürt, dies ist eine Option seiner eigenen Existenz, und wenn der innere Tumult ihn vollends überwältigt – »die Vorstellungen liessen sich nicht mehr beherrschen, alles ging auseinander«, schildert er einmal einen derartigen »Irrsinnsanfall« [200]   –, dann weiß er, dass es für ihn den Trost des harmlosen, in sich ruhenden, glücklichen Narrentums niemals geben wird.
    Mindestens einmal, im Jahr 1913, erlebte Kafka die Berliner Dichterin mit eigenen Augen und Ohren, saß ihr leibhaftig gegenüber am Tisch eines Berliner Cafés, umgeben von behaglich plaudernden Literaten. Sie, die sonst ein seismographisches Gespür hatte für jede Form von Herabsetzung und Distanzierung, bemerkte diesmal nichts. Und als sie viele Jahre später, nach Kafkas Tod, gegenüber einem Freund sich seiner erinnerte, da schrieb sie zwar seinen Namen falsch (»Kaffka«), versah aber das große »K« mit einem fein gezeichneten Heiligenschein. Da hatte sie einmal ihren Meister gefunden. [201]  

    ›Was machst Du eigentlich in den Weihnachtsferien?‹ Zum zweiten Mal schon

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