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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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für den Augenblick nicht ein. Kafka schloss das Heft wieder. Zwei, drei Seiten waren noch leer. Sie sind es bis heute.

    Hatte sich Felice Bauer ablenken, täuschen lassen? Für einen Moment, vielleicht. Denn sie stimmte zu, schon im Juli wiederum zwei Tage mit Kafka zu verbringen, in Karlsbad, und diesmal ohne schützende Begleitung. So gut war sein Spiel gewesen.
    Doch es ging nicht gut aus. Während sie ihm auf Spaziergängen Lieder vorsang, trottete Kafka an seinem 32. Geburtstag, von Schlaflosigkeit zermürbt, stumpf nebenher. Auch die Bücher halfen nicht, die sie ihm als Geschenke mitgebracht hatte, DIE BRÜDER KARAMASOW, Strindbergs INFERNO, und auch das Versprechen nicht, das sie auf dem Vorsatzblatt von Dostojewskis Roman notiert hatte: »Vielleicht lesen wir es recht bald gemeinsam.« Endlich, auf der Rückreise, bis Aussig im gemeinsamen Zug, konnte sie nicht mehr an sich halten, und es wurde eine »wahrhaft abscheuliche Fahrt«. [24]  
    Aber er führte diesmal eine Erinnerung mit nach Prag, die ein {41} wenig Trost spenden würde. Felice Bauer hatte, wie auf allen Reisen, auch nach Karlsbad ihren Fotoapparat mitgebracht, und Kafka durfte einige Male den Auslöser betätigen. Es wurden Sehenswürdigkeiten geknipst, aber auch wechselseitig fotografierten sie sich. Und da Kafka so gierig auf Fotos war und mit den Proben, die sie ihm zukommen ließ, niemals zufrieden schien, schlug sie vernünftigerweise vor, er solle doch die Filme in Prag entwickeln lassen, dann könne er selbst wählen, von welchen Aufnahmen er Abzüge wolle.
    Und so geschah es. Doch als Kafka wenige Tage später die Negative abholte, erwartete ihn eine Überraschung. Felice, die Technikexpertin und Hobbyfotografin, hatte alle Filme verkehrt eingelegt, die lichtempfindliche Schicht nach hinten, das schützende Papier nach vorn. Sämtliche Aufnahmen zeigten nichts . Und so blieb sein und ihr Karlsbader Lächeln verloren für die Ewigkeit.

{42} Kein Literaturpreis für Kafka
Der Kunst soll man alle Opfer bringen,
aber sie selbst darf nicht darunter sein.
Karl Kraus an Herwarth Walden
»Rötlich-braunes Wachstuchheft mit hellblauen Schutzblättern, enthaltend 20 Blätter (außer dem letzten ohne Verbindung mit dem Heftrücken) gelb- lich-weißen, unlinierten Papiers mit abgerundeten Ecken; Höhe 24,85 cm, Breite 19,8–20,0 cm; in zwei Lagen von 2 und 18 (beide ursprünglich 20) Blättern ursprünglich mit Faden geheftet (2 Heftstiche); roter Schnitt; Wasserzeichen Typ 2 a bzw. 3 a; Bl. 19 v und 20 r leer. Blätter nicht mehr durch Heftfaden verbunden.« [25]  
    Es ist zweifelhaft, ob Kafka das Objekt, dem diese minuziöse Beschreibung gilt, auf Anhieb wiedererkannt hätte. Manuskripte anderer Schriftsteller kannte er entweder als auratische Reliquien unter Glas – wie etwa die makellose Abschrift von Goethes Mignon-Lied, die er in Weimar bestaunt hatte, weil er sie für das Original hielt – oder als tintenfrische, von Diagonalstrichen und Randkorrekturen verunstaltete Blätter und Hefte, wie sie auf den Schreibtischen von Max Brod und Ernst Weiß umherlagen (zu schweigen von den Zetteln in Werfels Hosen- und Westentaschen). Das eine kam unmittelbar vom Olymp, das andere war Tagesgeschäft.
    Kein Autor am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts – und am wenigsten wohl Kafka selbst – hätte sich vorstellen können, dass seine schriftliche Hinterlassenschaft alsbald vermessen, fotografiert und beschrieben würde, als handele es sich um Papyrusrollen aus einer ägyptischen Grabkammer, und das abstrakte Interesse am Medium und an der Materialität des Zeichens war jener Generation noch völlig fremd. Im Gegensatz zu schön bedruckten Buchseiten galten Notizblätter und -hefte als Verbrauchsgut, und es war durchaus zeittypisch, dass Kafka Blätter herausriss, wenn er private von {43} literarischen Aufzeichnungen trennen wollte, dass er seine Hefte von vorn und von hinten gleichzeitig füllte, dass Tinte und Bleistift, Normalschrift und Stenographie nach Bedarf einander abwechselten und dass schließlich auch gedankenverlorene Krakeleien zwischen die Zeilen gerieten. Anders als heute, da literarische Zwischenstufen im ordentlichen Laserausdruck bereits wie Werke aussehen, war die individuelle Spur des Schaffensprozesses etwas Alltägliches. Brod hatte keinerlei Skrupel, auf nachgelassenen Blättern seines Freundes, den er doch für ein literarisches Genie und überdies für die Leitfigur einer neuen Religiosität hielt, eigene

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