Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
gilt nicht das Schreiben, wohl aber das Schreiben-Müssen als obsolete Leidenschaft. Nicht zuletzt Kafkas Ruhm macht es schwer, noch Empathie aufzubringen für seine Verzweiflung am Text. Wir wissen, dass er letztlich nicht gescheitert ist, und wir fragen, was er darüber hinaus hat wollen können. Jenes ›letztlich‹ aber entspringt einem Urteil aus historischer Distanz, welches das ganze Leben umfasst, das Leben in seiner geronnenen Gestalt, samt seinem Kontext, der erst heute wirklich zu überblicken ist. Für Kafka selbst, der eine noch im Dunkel liegende Wegstrecke von (vielleicht, wahrscheinlich, hoffentlich) mehreren Jahrzehnten vor sich hatte, hätte dies kein Trost sein können, selbst dann nicht, wenn er den eigenen literarischen Rang begriffen und akzeptiert hätte.
Man muss, um diesen Unterschied zwischen singulärer, leiblicher Existenz und postumer Bedeutung in aller Schärfe zu erfassen, sich zunächst klarmachen, wie nahe Kafka dem selbstgesteckten Ziel tatsächlich gekommen war und welche Konsequenzen das literarische Gelingen nach sich gezogen hätte. Vor allem hinsichtlich seines Hauptwerks, des PROCESS, lässt sich das verhältnismäßig genau abschätzen, denn es ist ja offensichtlich, dass Kafka diesen Roman als kreisförmiges, das heißt als durchaus überschaubares, formal beherrschbares Gebilde konzipiert hatte. Auf der ersten wie auf der letzten Seite ist der Held mit sich allein, dazwischen aber wird, Kapitel für Kapitel, der soziale Radius des Josef K. abgeschritten: die Vermieterin, die Zimmernachbarin, Kollegen und Vorgesetzte, der Stammtisch, der Onkel, die Mutter, der Anwalt, die Geliebte – und natürlich das Gericht selbst. Ob Kafka noch andere Gerichtsszenen plante oder weitere zwielichtige Ratgeber aus der Randzone des Gerichts einführen wollte, wissen wir nicht; die sozialen Beziehungen des Angeklagten jedoch sind fast vollständig präsent, und der Verlauf des nur angedeuteten Mutter-Kapitels lässt sich beinahe erraten. Man hat keineswegs das Gefühl, die vagen Konturen eines Fragments abzutasten, und so rätselhaft das Ganze ist, so deutlich erkennbar sind die verbleibenden Lücken, die Kafka noch hätte ausfüllen müssen, um der inhärenten, zwingenden Logik dieses Werks bis zum Ende zu folgen.
Auch außerhalb des Textes waren die publizistischen Barrieren längst beiseitegeräumt, dafür hatte vor allem Max Brod gesorgt. {46} Kafka brauchte nirgendwo zu antichambrieren, er hatte einen einflussreichen Verleger, von dem er zwar seit längerem nichts mehr hörte und der auch augenblicklich gar nicht in seinem Leipziger Büro saß, der jedoch einen vollendeten Roman, und gar diesen, ohne zu zögern angenommen hätte. Da die Produktionszeiten – gemessen an heutigen Verhältnissen – noch recht kurz waren, hätte DER PROCESS im Herbst, spätestens Ende 1915 erscheinen können. Und selbst wenn der kurzfristige, messbare Erfolg ausgeblieben wäre – das Publikum wollte während des Krieges unterhalten werden, mehr denn je –, so wäre Kafka doch die prominenteste Fürsprache sicher gewesen, von Thomas Mann bis Robert Musil, und an Lesungen, Ehrungen und neuen Bekanntschaften, vielleicht Freundschaften wäre mittelfristig kein Mangel gewesen. Verführerische Bilder steigen herauf: Kafka im Gespräch mit seinen Übersetzern, am Kaffeehaustisch des einflussreichen Karl Kraus, bei einem Empfang in Samuel Fischers Grunewald-Villa … Kein Zweifel, dass eine Veröffentlichung des PROCESS Kafkas allzu engen biographischen Horizont sehr bald gesprengt und ihm eine Vielzahl von (angenehmen wie auch lästigen) ›Kontakten‹ verschafft hätte, um die ihn selbst Brod hätte beneiden müssen.
» … dieses ganze Fieber, das mir den Kopf Tag und Nacht heizt stammt von Unfreiheit«, resümierte Kafka im folgenden Jahr [28] , und es bedarf nicht allzu vieler hätte und wäre , um das qualvolle Gefühl der Vergeblichkeit zu ermessen, dem er, je nüchterner er Bilanz zog, umso schutzloser ausgeliefert war. Der Krieg hatte den möglichen Befreiungsschlag in letzter Minute verhindert, und die eigene versiegende Kraft rückte nun alles, was an Optionen der Freiheit verblieben war, in unabsehbare Ferne. Noch wusste er: Das Scheitern ist weder zwangsläufig noch irreversibel. Doch entsetzlich war die Fallhöhe zwischen dem, was in greifbarer Nähe gewesen war, und der Prager Wirklichkeit, die jetzt heillos dominiert war von Kriegssorgen und Überstunden. Unzweideutige Symptome der
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