Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
Eintragungen mit Rotstift vorzunehmen, manche dieser unersetzlichen Blätter der Post anzuvertrauen, ja sogar zu verschenken. [26] Natürlich wusste Brod, dass die ›historisch-kritische Ausgabe‹, die jede erreichbare Silbe archiviert und kommentiert, das Adelsdiplom des klassischen Autors ist, und er war sich völlig sicher – wenngleich er stets mit unguten Gefühlen daran dachte –, dass auch Kafkas Werk eines Tages ins Fixierbad der Editionswissenschaft getaucht würde. Niemals aber wäre Brod auf den Gedanken verfallen, das Papier zu betrachten, auf das Kafka geschrieben hatte. Wozu auch? Die präzise Abschrift war es doch, worauf es ankam. Und so gab sich Brod alle Mühe, den Tatort sauber aufzuräumen, lange, ehe die philologischen Ermittler eintrafen.
Ein halbes Jahrhundert später wurden Kafkas Heftblätter auf den Lichttisch gelegt. Man entdeckte Wasserzeichen des Papierherstellers, vierblättrige Kleeblätter, die in bestimmten Mustern angeordnet sind, und diese Muster unterscheiden sich geringfügig, je nachdem, ob es sich um ›linke‹ oder ›rechte‹ Seiten handelt. Damit war eine entscheidende Spur gesichert, die es in vielen Fällen ermöglichte, das jeweilige Blatt dort wieder einzufügen, wo Kafka es achtlos herausgetrennt hatte, und damit den zugehörigen Text zu datieren. Bedurfte es noch weiterer Beweise, dass hier buchstäblich alles von Bedeutung sein kann? Wenn aber alles, dann wirklich alles : Breite, Höhe, Farbe, Schnitt, nicht zu vergessen die abgerundeten Ecken – ein Steckbrief für die Ewigkeit. Indessen das Original unendlich langsam, aber unaufhaltsam zerfällt, jener ›Schriftträger‹, der jetzt den wissenschaftlichen Namen ›KBod AI, 10‹ trägt, weil er in der Bibliotheca Bodleiana in Oxford verwahrt wird und weil es Kafkas zehntes Tagebuchheft ist.
Es ist kaum anzunehmen, dass er selbst jene Wasserzeichen, über die seine Stahlfeder hinwegglitt, jemals bewusst wahrgenommen hat. {44} Auch hätte er sich nicht träumen lassen, dass eines Tages jemand Blatt für Blatt die Wörter zählen würde, die auf jeweils einer Manuskriptseite Platz fanden. Es hätte ihn erheitert, und Brod hätte sich an den Kopf gegriffen. Und doch hat der Literaturwissenschaftler Malcolm Pasley den Nachweis erbracht, dass mit diesem eigentümlichen Verfahren einzelne Passagen des PROCESS sich datieren lassen – ein kostbarer Gewinn an Erkenntnis angesichts eines weltweit kanonisierten Romans, dessen Autor nicht einmal die Abfolge der Kapitel verbindlich fixiert hat. [27] Gewiss, das Moment des Komischen, das diesem Einkriechen in die materielle Hinterlassenschaft des Autors eignet, ist unbestreitbar. Doch nicht weniger virulent, und am Ende bedeutsamer, ist die Lust an der verblüffenden Lösung – als beobachtete man einen professionellen Billardstoß über drei, vier Banden, auf den kein gewöhnlicher Sterblicher verfallen würde und dessen Gelingen immer eine Art freudiges Erschrecken auslöst. Zurück hinter die Fertigkeiten der Spezialisten können wir ohnehin nicht mehr, und der so häufig beschworene ›unverstellte‹ Blick auf Kafka – sollte es ihn denn jemals gegeben haben – wäre heute nur noch als Illusion zu haben.
Die Bilanz war furchtbar. DER PROCESS und DER VERSCHOLLENE: unvollendet und wahrscheinlich unvollendbar. ERINNERUNGEN AN DIE KALDABAHN, DER DORFSCHULLEHRER, DER UNTERSTAATSANWALT, die ›Blumfeld‹-Erzählung und noch zwei, drei weitere Anläufe: nichts beendet, alles gescheitert, Abbrüche, Fragmente und Ruinen, so weit das Auge reichte. Allein die überaus blutige STRAFKOLONIE vorzeigbar, nach einigen Reparaturen vielleicht publizierbar. Und dies war das Ergebnis monatelanger, verbissener Anstrengung, die unreifen Früchte, für die Kafka seinen Schlaf, seinen Urlaub, überhaupt jede Möglichkeit der Erholung geopfert hatte, die er den Kopfschmerzen, dem Lärm der angemieteten Zimmer, der im Krieg rasch wachsenden Arbeitsbelastung im Büro förmlich abgetrotzt hatte. Da sich Kafka über works in progress nur höchst ungern ein Wort entlocken ließ, hatte wohl niemand in seiner Umgebung eine auch nur annähernde Vorstellung von diesen Kämpfen, und erst die avancierte, noch den letzten zarten Bleistiftstrich bewahrende Philologie ist es gewesen, die das ganze Ausmaß des existenziellen Debakels hat kenntlich werden lassen.
Heute, da sprachliche Schöpfungen einer überwältigenden Konkurrenz {45} durch härtere, schnellere Medien ausgesetzt sind,
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