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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Erschöpfung registrierte Kafka schon Anfang Januar 1915, bald darauf legte er das Manuskript des PROCESS beiseite, arbeitete sporadisch an den begonnenen Erzählungen weiter, versuchte Neues, verwarf Altes; schließlich, am 9.April, ist im Tagebuch zum letzten Mal von ›guter Arbeit‹ die Rede, im Mai gibt Kafka gar das Tagebuch selbst auf und weigert sich auch fortan, den Freunden vorzulesen. Es war wie ein letztes, langes Ausatmen, dem eine erschreckende Stille folgte. {47} Noch ahnte er nicht, dass diese Erstarrung länger als eineinhalb Jahre andauern sollte. Im September raffte er sich dazu auf, ein neues Tagebuchheft zu eröffnen, doch war er vom ersten Satz an davon überzeugt, es sei »nicht so notwendig wie sonst«; und da er keinen Sinn darin sah, die Seiten mit der Wiederholung alter Klagen zu füllen, griff er nur noch zur Feder, wenn besondere Ereignisse, Begegnungen oder Lektüreeindrücke ihn dazu drängten. Dazwischen wochenlanges Schweigen. Erst gegen Ende 1916, als die Physiognomie seiner Stadt, seiner Lebenswelt sich bis zur Unkenntlichkeit verzerrt hatte, unternahm Kafka einen neuerlichen Versuch, Leben durch ›Arbeit‹ zu rechtfertigen.
    Es ist nicht verwunderlich, dass Kafka unter diesen Umständen wenig Initiative zeigte, um zumindest seinen vollendeten Werken einen würdigen Auftritt zu verschaffen. Das war keineswegs immer so gewesen. Er wusste, dass seine jahrelangen Anstrengungen sich aus Sicht der Leser wie ein schwächliches Flackern ausnehmen mussten, und er wusste, dass er der literarischen Öffentlichkeit das Bild eines Minimalisten bot, der zu größeren Entwürfen nicht den Atem hat. Nur zwei Bücher lagen bislang vor, die schmächtig genug aussahen: 99 Seiten umfassten die Prosastücke BETRACHTUNG, gar nur 47 Seiten DER HEIZER. Alles übrige war auf Zeitungen und Zeitschriften verstreut, und nicht eben auf die bedeutendsten. Sogar DAS URTEIL, die einzige seiner Erzählungen, an der Kafka nicht das Geringste auszusetzen hatte und die er oft und gern vorlas, war bislang nur in einem von Brod konzipierten Sammelband erschienen, den niemand kaufen wollte.
    Kafka hatte sich durchaus darum bemüht, diesen Zustand zu ändern. Er hatte Kurt Wolff einen Band mit Erzählungen vorgeschlagen und auch sogleich eine Zusage erhalten: DIE SÖHNE war der vorläufige Titel dieses Buchprojekts, das Kafkas Schaffensphase von 1912 gebündelt präsentieren sollte – jedenfalls diejenigen Resultate, die seiner Ansicht nach vorzeigbar waren: DAS URTEIL, DER HEIZER, DIE VERWANDLUNG. Doch er ließ sich mit dem Manuskript der VERWANDLUNG allzu viel Zeit, und Wolff mahnte nicht, erkundigte sich nicht und ließ durch keine – von Kafka sicherlich erwartete – Geste erkennen, ob er sich an die eigene »bindende Erklärung« vom April 1913 überhaupt noch erinnerte. Und obwohl Brod in seinen Unterhandlungen mit Wolff beharrlich den Namen des Freundes ins Spiel {48} brachte, blieb mehr als zwei Jahre lang die höfliche Zusendung von Rezensionen und des Verlagsalmanachs das Einzige, womit Wolff seinen scheuen Autor aufmunterte. Das war denn doch etwas dürftig, und nachdem Kafka schon im August 1914 hatte hören müssen, dass sowohl Kurt Wolff wie auch dessen Lektor Franz Werfel in den Krieg gezogen waren, und da zeitweilig gar zehn der zwölf Angestellten Wolffs ›im Feld standen‹, rechnete er wohl nicht mehr damit, aus Leipzig irgendeine Form von ›Betreuung‹ zu erfahren. Das war ihm nur recht. Hätte sich der Verleger – entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten – nun plötzlich nach Kafkas Plänen und literarischen Projekten erkundigt, es wäre kein sehr glücklicher Zeitpunkt gewesen. Denn erklären zu müssen, warum es nun schon wieder nichts wurde mit einem Roman … solchen Gesprächen ging Kafka aus dem Weg, wo immer er konnte. Und seit er sich zweimal vergeblich darum bemüht hatte, DIE VERWANDLUNG wenigstens in einer Zeitschrift gedruckt zu sehen – seit einem halben Jahr schon lag das Manuskript bei René Schickele, dem Redakteur der Weißen Blätter –, mochte er über Veröffentlichungen überhaupt nicht mehr sprechen. Er war kein Bittsteller.
    Doch plötzlich, Mitte Oktober 1915, drückte Brod ihm ein Schreiben des Kurt Wolff Verlags in die Hand, dazu einige Exemplare der Weißen Blätter , frisch aus der Druckerei. Offenbar hatte man Kafkas Adresse verlegt und darum wieder einmal seinen Impresario bemühen müssen. Die Sache war wichtig genug. Und sie war so eilig, dass nicht einmal

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