Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
Leibes und der Seele, einer universellen {37} Duldung, eines allumfassenden Verzeihens. Kafka erinnerte sich der beinahe kindlichen Klagelaute, die er einmal Felice nachgesandt hatte, als sie – während einer Geschäftsreise – für einige Tage ihn aus den Gedanken verlor. Das sollte nicht wieder vorkommen.
»Erinnerst Du Dich der Briefe, die ich Dir vor etwa zwei Jahren, es dürfte etwa in diesem Monat gewesen sein, nach Frankfurt geschrieben habe. Glaube mir, ich bin im Grunde gar nicht weit entfernt davon, sie gleich jetzt wieder zu schreiben. Auf der Spitze meiner Feder lauern sie. Sie werden aber nicht geschrieben.«
Und daran hielt er sich. Kein unwürdiges Klagen mehr, aber auch keine jener ironischen, charmanten, bisweilen witzigen Selbstbezichtigungen, mit denen er einst um sie geworben hatte und an denen sie ihn wiedererkannte. Kafka biss die Zähne zusammen, übte sich in Selbstbeherrschung, bedeckte angestrengt alle empfindlichen Stellen und schreckte, wenn es schmerzte, auch nicht mehr davor zurück, sich in die Amtssprache zu flüchten: »In Deinem letzten Briefe heisst es dass ein Bild beigelegt ist. Es lag nicht bei. Das bedeutet eine Entbehrung für mich.« [19]
Kafka hat wohl erst in der Rückschau erkannt, dass die neue Strategie, die er sich selbst verordnet hatte, keineswegs gratis und keineswegs nur entlastend war. Wer im Schützengraben lebt, dem erscheint die Welt als ein System von Gräben, die er wohl überscharf beobachten, aber nicht mehr eigentlich erleben kann. Und Camouflage ist anstrengend. Kafka hatte sich Selbstzensur auferlegt – groteskerweise im selben Augenblick, da auch die staatliche Zensur zur Vorsicht zwang –, er nötigte sich zu einem Akt der Verstellung, zu absichtsvollem Verstummen, und dieses Auseinanderhalten von Begehren und Sprache, diese ständige Besinnung aufs gefahrlos Mitteilbare saugte psychische Energie auf. Es ist keineswegs ausgemacht, ob es die Kriegssorgen, die rapide zunehmende Arbeitsbelastung im Büro oder nicht vielmehr die manische Arbeit an einem psychischen Bollwerk und die damit einhergehende Vereinsamung war, die ihm das größere Opfer abverlangte. Und der psychosomatische Preis war überaus hoch: Schlaflosigkeit, gesteigerte Lärmempfindlichkeit und Kopfschmerzen wurden chronisch, Kafka erlebte tagelange Schmerzattacken, migräneartige Zustände, die ihn innerlich gleichsam ausglühten {38} und gegen die das eigens aus Berlin bestellte ›Ohropax‹ natürlich nichts vermochte. Anfälle von Herzschmerzen kamen vor. Auch belegen Kafkas Notizen, dass die Phasen depressiver Leere, die er bisher nur als bedrohliche Grenzzustände kannte, jetzt regelmäßig und mit kaum mehr erträglicher Intensität wiederkehrten. »Unfähigkeit in jeder Hinsicht und vollständig«; »Gefühl fast zerreissenden Unglücklichseins«; »Hohl wie eine Muschel am Strand«; »Unfähig mit Menschen zu leben, zu reden«; »vollständige Gleichgültigkeit und Stumpfheit … Öde, Langeweile, nein nicht Langeweile nur Öde, Sinnlosigkeit, Schwäche«; selbst einen sonntäglichen Ausflug mit Ottla und dem Ehepaar Weltsch erlebte er »wie in einer Folter« – Interesse zu heucheln, Konversation zu machen, das waren noch ungewohnte Übungen. [20]
Wo aber blieb der Gewinn? War nicht der Schmerz einer Demütigung, wie sie Kafka im Askanischen Hof erlitten hatte, auf Dauer eher zu ertragen als diese Stumpfheit, dieses ewige Wundscheuern am eigenen Panzer? Das musste sich erst noch zeigen. Zumindest nach außen hatte ja Kafka an Haltung gewonnen, und die Distanz verlieh Entschlossenheit. So schlug er Felice Bauer ein neuerliches Treffen in Bodenbach vor, sie könne dorthin mitbringen, wen sie wolle, aber am liebsten sei es ihm, wenn sie allein komme. Und er erinnerte sie gar an ein besonders heikles Datum, die Verlobungsfeier vor einem Jahr, freilich ohne ›Ich‹ und ohne ›Du‹ – als handele es sich um gemeinsame Bekannte und als sei gerade an diesem Punkt seine eigene Empfindung anästhesiert: »Sag mir also, wohin er sie tragen wollte; es ist unausdenkbar. Er liebte sie eben und war unersättlich. Er liebt sie heute nicht weniger, wenn er auch endlich darüber belehrt worden, dass er sie so leicht und einfach nicht bekommen kann, selbst wenn sie zustimmt.« [21]
Ob sie das kommentiert hat, wissen wir nicht; rhetorisch konnte Kafka sie wohl nicht mehr aus der Fassung bringen. Nach Bodenbach aber wollte sie keineswegs mehr allein reisen; diesmal werde
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