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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Text hervorzutreten und damit einen neuen Versuch zu unternehmen, der Fron des Beamtendaseins zu entrinnen. Und dieser große Text, DER PROCESS, nahm rasch Gestalt an.
    Kafka hatte, wenige Stunden, bevor Grete Blochs Brief eintraf, wieder einmal über den Ausweg des Suizids nachgedacht, und er hatte probeweise eine Liste von letzten Verfügungen erstellt, die er in diesem äußersten Fall an Max Brod senden würde – dies und nichts anderes war das »sonderbare Zusammentreffen«, das er gerade der Berlinerin gegenüber keineswegs enthüllen durfte. Aber es war diesmal nicht Verzweiflung, die ihn zu derartigen Überlegungen drängte. »14 Tage, gute Arbeit zum Teil«, notierte er im Tagebuch, »vollständiges Begreifen meiner Lage.« Ein hohes Selbstlob, nach seinen Maßstäben, vor allem aber ein Zeichen dafür, wie eng für Kafka die gelingende schriftstellerische Arbeit mit durchgreifender und illusionsloser Selbsterkenntnis verknüpft war. Diese Erkenntnis mochte bitter, ja vernichtend sein – »ich weiss, dass es so bestimmt ist, dass ich allein bleibe«, fuhr er fort –, doch zu solcher Klarheit überhaupt durchzustoßen, barg ein Moment von Glück, das er von der Lust am sprachlichen Gelingen gar nicht zu unterscheiden vermochte. Er hätte gewiss nicht sterben wollen, gerade an diesem Tag nicht, an dem er die verbleibenden Optionen seines Lebens so nüchtern ins Auge fasste.
    Doch diese Hellsicht umschloss eben auch das Begreifen der eigenen Bedürftigkeit, jener Sehnsucht vor allem, der ewigen Anspannung ein Ende zu machen und sich fallen zu lassen: wenn nicht in den Tod, so doch in die Arme eines Menschen. » … trotz allem«, notierte Kafka, nachdem er Grete Blochs Brief beantwortet hatte, »trotz allem tritt wieder die unendliche Verlockung ein, ich habe mit dem Brief über den ganzen Abend gespielt, die Arbeit stockt«. Und nachdem er aus dem Gedächtnis, beinahe Wort für Wort, seine unbarmherzige Antwort ins Tagebuch übertragen hatte, formulierte er das geheime Postskriptum: {36}
»Was ist damit getan? Der Brief sieht unnachgiebig aus, aber nur deshalb weil ich mich schämte, weil ich es für unverantwortlich hielt, weil ich mich fürchtete nachgiebig zu sein, nicht etwa, weil ich es nicht wollte. Ich wollte sogar nichts anderes. Es wäre für uns alle das beste wenn sie nicht antworten würde, aber sie wird antworten und ich werde auf ihre Antwort warten.« [18]  
    Unentschlossenheit, Doppelzüngigkeit, stures Taktieren. Und notorisches Klagen, wo es auf Entscheidungen ankam. Das waren die Anklagepunkte, die ihn die Verlobung gekostet hatten, »primitive Vorwürfe«, wie er fand, und die er dennoch nicht völlig von der Hand weisen konnte. Denn sie umschrieben ein bewegliches System der Verteidigung, mit dem er gehofft hatte, kränkende Konfrontationen zu vermeiden, ohne sich völlig verschließen zu müssen. Es hatte nicht funktioniert, und Kafka war jetzt entschlossen, zu solchen Vorwürfen keinen Anlass mehr zu geben.
    Kafkas Brief an Grete Bloch ist das früheste von seiner Hand überlieferte Dokument, das von der ersten bis zur letzten Zeile Maskerade ist, ein erdachtes Rollenspiel, das freie Aggression ermöglicht, sogar eine Art von Triumph, das jedoch zur Bedeutung des Augenblicks in völligem Gegensatz steht. Legt man Kafkas eigenen, emphatischen Begriff von Wahrheit zugrunde, dann ist dieser Brief Lüge. Und damit zeigt er einen radikalen Wechsel der Strategie an: Denn mit jenen höflichen Gesten der Distanzierung, die sozial üblich und akzeptiert waren, hatte Kafka bisher nur gespielt, das Herunterklappen des Visiers nur angedeutet – nicht als Drohung, sondern als Bitte, es dahin nicht kommen zu lassen, ihn zu Notmaßnahmen nicht zu zwingen. Nun aber machte er Ernst. Er verteidigte nicht mehr nur das eigene, flüssige Selbst, sondern eine Position, einen Ort, einen Bau . Kafka begann sich einzugraben. Und er war sich der Bedeutung dieses Anfangs bewusst, denn wie ein gewichtiges Gründungsdokument kopierte er den Brief und verwahrte ihn in den eigenen Akten.
    Felice Bauer bemerkte die Veränderung; Kafka bestritt sie vorläufig, gestand nur ein, die künftigen Briefe würden »anders sein als früher«. Wie anders? Konnte man denn etwas Derartiges festlegen, planen, voraussehen? Gewiss nicht. Doch Kafka wusste jetzt, was er nicht mehr wollte: Es war der Traum einer Symbiose, von dem er sich verabschiedete, jener Traum einer freien, rückhaltlosen, ja verantwortungslosen Öffnung des

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