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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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sie zwei Freundinnen mitbringen, antwortete sie nach einigem Bedenken, und eine davon sei Grete Bloch. Vermutlich hörte Kafka den eigenen Herzschlag, als er diese Mitteilung las, und noch wenige Monate zuvor wäre ihm die passende Erklärung, um diesem Treffen auszuweichen, sogleich bei der Hand gewesen. Nun aber … kein Einwand, keine Regung, weder in seinen Notizen noch in den erhaltenen Briefen. {39} Tatsächlich hatte Kafka die Nerven, an Pfingsten 1915 in die Böhmische Schweiz zu fahren, dort zweieinhalb Tage in Gesellschaft seiner ›Richterinnen‹ zu verbringen und inmitten der Ausflüglermassen einige vom Baedeker empfohlene hot spots zu besichtigen. Er konnte einigermaßen sicher sein, dass an die Vergangenheit nicht gerührt wurde – vor allem nicht an das Berliner Tribunal, das nun zehn Monate zurücklag –, dafür sorgte jene zweite Freundin, ein Fräulein Steinitz, in deren Anwesenheit sich Vertraulichkeiten verboten und die wohl (auch Felice konnte taktieren) ebendeshalb mit eingeladen war. Stattdessen kam es zu einer oberflächlichen Aussöhnung mit Grete Bloch. Und am Abend, zurück im Hotel, hatte sich die Welt ohnehin ein Stückchen weitergedreht, war das Vergangene noch um ein weniges vergangener: Italien hatte Österreich-Ungarn soeben den Krieg erklärt; vielleicht war das schon das Ende von allem; wer wollte, wer durfte da noch empfindlich sein.
    Ja, Kafka bewahrte Haltung. Um welchen Preis, das blieb vorläufig sein Geheimnis, und dass man angespannt, müde, überarbeitet und reizbar war, brauchte in Kriegszeiten nicht eigens begründet zu werden. Kafka aber hatte gelernt, den Hinterausgang zu nutzen, er war nicht anwesend , er stand neben sich, hatte die Grenze zwischen Selbstbeobachtung und Selbstdistanzierung überschritten und vermochte allein darum, verzweifelt und nüchtern zugleich zu sein. »Wäre ich ein Fremder«, hatte er im Februar notiert, »der mich und den Verlauf meines Lebens beobachtet, müsste ich sagen, dass alles in Nutzlosigkeit enden muss, verbraucht in unaufhörlichem Zweifel, schöpferisch nur in Selbstquälerei. Als Beteiliger aber hoffe ich.« [22]   Beteiligt am eigenen Leben? Der Begriff allein vollzieht die Spaltung. Kafka aber ging noch einen entscheidenden Schritt weiter: Er verließ den Bau, verbarg sich in der Nähe, beobachtete den Eingang, umfasste das ganze Schanzwerk samt der nackten Kreatur, die sich darin verbarg, und genoss den Anblick aus unberührbarer Entfernung.
    Es war dies eine radikalisierte Form der Selbstbeobachtung, förmlich ein Verlassen seiner selbst , das jetzt nach Ausdruck drängte. Kafka entdeckte die adäquate sprachliche Form sehr rasch, sie lag nahe genug, es war die Rede in der dritten Person, die Rede vom Er, mit der er jetzt zu experimentieren begann und die er schon bald ins Arsenal seiner literarischen Stilmittel aufnahm. Kaum war Felice Bauer von der Reise zurück, empfing sie bereits die ersten Kostproben.
»Liebe Felice Du hast letzthin einige phantastische Fragen über den Bräutigam von F. an mich gestellt. Ich kann sie jetzt besser beantworten, denn ich habe ihn auf der Rückfahrt im Zug beobachtet. Das war leicht möglich, denn es war ein solches Gedränge, dass wir zwei förmlich auf einem Platze sassen. Nach meiner Meinung also ist er ganz an F. verloren. Du hättest ihn sehen sollen, wie er die lange Fahrt über im Flieder (niemals sonst nimmt er etwas derartiges auf eine Fahrt mit) die Erinnerung an F. und an ihr Zimmer suchte. […] Ich glaube der Betreffende hat mehr Vertrauen zu mir als zu F.«
»Liebe Felice, sieh er sagt, dass ihm bange ist. Er sagt, er sei zu lange dort geblieben. Zwei Tage wären zu viel gewesen. Nach einem Tag kann man sich leicht loslösen, zwei Tage aber erzeugen schon Verbindungen, deren Lösung weh tut. Unter demselben Dach schlafen, an einem Tisch essen, die gleichen Tageszeiten zweimal durchleben, das stellt unter Umständen schon fast eine Ceremonie dar, die ein Gebot hinter sich hat.«
    Förmlich auf einem Platz. Ich und der betreffende Bräutigam. Hörte man nicht sehr genau hin, so klang es beinahe wie ein Echo aus längst vergangenen Tagen, als Kafka noch die eigenen Leiden parodierte und in den Dienst des Flirts stellte. Doch wenige Stunden, nachdem er diese Postkarten abgesandt hatte, kroch er in den sicheren Bau zurück und nahm das Tagebuch vor: »Viel Unglück seit der letzten Eintragung. Gehe zu Grunde. So sinnlos und unnötig zu grunde gehn.« [23]   Mehr fiel ihm

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