Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
überhöht, von einem engmaschigen Netz religiöser Vorschriften aber auch gefesselt war. Individuelle Lebensentwürfe gab es hier nicht, am wenigsten für Frauen, und es bedurfte beträchtlicher Willenskraft und außergewöhnlicher Umstände, um die vorgezeichnete Bahn zu verlassen, ohne sich dem sozialen Untergang preiszugeben. Bezeichnenderweise waren es zwei katastrophische Erschütterungen, die Dora die Tür nach draußen öffneten. Zum einen der frühe Tod der Mutter, der sie schon vor der Pubertät zu einer gewissen Selbstständigkeit zwang und der wahrscheinlich auch den Vater davon abhielt, allzu früh nach dem Heiratsvermittler zu rufen: Schließlich brauchte er jemanden, der den Haushalt führte. Die zweite Katastrophe war der Beginn des Weltkriegs, der dafür sorgte, dass in Będzin Tausende fremde Gesichter auftauchten und dass die Barrieren zwischen den verschiedenen jüdischen Milieus endgültig fielen. Auch hier gewann der politische Zionismus Einfluss vor allem auf die Jugend, und plötzlich fanden sich Mädchen aus ultraorthodoxen, gemäßigt-religiösen und völlig assimilierten Familien allesamt im selben Hebräischkurs.
Dora beschäftigte sich mit den zionistischen Klassikern, insbesondere {547} mit den Schriften Herzls, sie lernte Iwrith , sah ostjüdisches Theater und wirkte an einigen Aufführungen sogar selbst mit. Ein Skandal, der ihren Vater in den denkbar peinlichsten Zwiespalt brachte. Denn die höchste geistige Autorität, die er kannte, der Rabbi von Ger, bedrohte alle Juden, die ihre Kinder nicht schleunigst aus den zionistischen Zirkeln herausholten, mit Ausschluss aus der Gemeinde. Das war der Standpunkt, den infolgedessen auch der einflussreiche Herschel zu vertreten hatte. Was tun? Vor allem schien es ratsam, das Mädchen außer Sichtweite zu bringen, weg von Będzin, weg von ihren allzu vielen Freunden. Er fuhr mit ihr nach Krakau und gab sie in ein jüdisch-orthodoxes Internat, das den Segen des ›Rebbe‹ hatte, die erste Beth-Jakob-Schule zur Ausbildung strenggläubiger und gesetzeskundiger Lehrerinnen. Doch dazu war es zu spät. Dora war bereits neunzehn Jahre alt, und der antisemitische Furor, den sie in der polnischen Großstadt zu spüren bekam, war keineswegs geeignet, sie von ihren palästinensischen Träumen abzubringen. Sie floh aus Krakau, schlug sich durch bis Breslau, wurde von ihrem Vater nochmals eingefangen, doch nach Doras zweitem erfolgreichen Ausbruch gab er die Verfolgung auf und betrauerte seine Tochter, als sei sie gestorben.
Für etwa ein Jahr blieb sie – vermutlich als registrierter Flüchtling – im deutschschlesischen Breslau. Sie arbeitete in einem Kinderheim, verkehrte in studentischen Zirkeln und lernte sehr rasch Deutsch. Wahrscheinlich war es die bildungsbürgerliche, zionistisch orientierte Breslauer Familie Badt, die sie schließlich veranlasste, nach Berlin weiterzuziehen, denn dort übernahm sie einen Posten im Haushalt eines der Söhne, des SPD-Abgeordneten und jüdischen Gemeindevorstands Hermann Badt. Auch sie selbst nahm an politischen Versammlungen teil; einer von Doras Breslauer Bekannten, der Mediziner Ludwig Nelken, erinnerte sich sogar, sie in Berlin gemeinsam mit der prominenten Kommunistin Angelica Balabanoff erlebt zu haben. [649] 1920 aber wurde sie an eine andere, für ihr Leben vorerst bedeutsamere Adresse vermittelt: das Jüdische Volksheim. Eine junge Frau, die alle wichtigen Sprachen beherrschte, die hier vonnöten waren, die karge Lebensbedingungen gewohnt war, die Erfahrung mit schwierigen Kindern hatte und zu alledem auch noch kochen konnte – für das Volksheim muss Dora Diamant ein außergewöhnlicher Glücksfall gewesen sein. Wann sie mit den Flüchtlingskindern zum {548} ersten Mal verreiste, wissen wir nicht; in Müritz aber scheint sie schon der verantwortliche Mittelpunkt der Schar gewesen zu sein, sie war Küchenchefin, Wirtschafterin, Gesangs- und Sprachlehrerin.
Auch Dora hatte natürlich den freundlichen, etwas knabenhaften Herrn aus der Pension schon bemerkt, meist war er in Begleitung einer Frau und mehrerer Kinder, und diese Familie schien ihr so merkwürdig – sie überlegte sogar, ob es sich um einen »Halbblut-Indianer« handelte –, dass sie ihnen auf der Straße einmal gefolgt war. [650] Erst jetzt erfuhr sie, dass er ein Junggeselle aus Prag, Jude und überdies der von allen mit Herzklopfen erwartete Schriftsteller war. Ein sehr bescheidener Schriftsteller, wie sich zeigen sollte,
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