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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Senger
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anziehen, aber ich komme in kein Hosenbein hinein, wie sehr ich mich auch anstrenge. Ein Junge reicht mir einen Sack. Ich versuche, da hineinzuschlüpfen, denn jetzt ist es mir schon egal, mit was ich meine Blöße bedecke. Aber auch das geht nicht, ich trete immer auf den Sack, und wenn ich ihn schon ein Stückchen hoch habe, ziehen ihn die Leute wieder herunter.
    Ich flüchte aus der Menschenmenge, die sich um mich gebildet hat. Der Kreis öffnet sich, und ich laufe davon, die johlende Meute hinter mir her. Ich renne die Straße entlang und suche einen Hauseingang, wo ich mich verstecken kann. Aber die Häuser haben auf einmal keine Eingänge mehr, oder ich finde sie nicht, obwohl ich weiß, daß irgendwo Eingänge sein müssen. Mehrmals laufe ich um das Häuserviereck, vergebens. Da sehe ich die Linie 3 der Straßenbahn kommen, sie fährt zum Opernplatz und hat hier eine Haltestelle. Wenn ich mit ihr fahren würde, wäre das die Rettung. Sie hält nicht, ich laufe ihr noch ein Stück nach, aber sie fährt davon, meine letzte Hoffnung fährt davon, meine Lage ist ausweglos.
    Auch bei diesem Traum erinnere ich mich an Variationen. Mal kommt die Straßenbahn gleich, als ich noch in der Menge stehe und versuche, den Sack hochzuziehen. Aber immer fährt sie vorbei, oder sie ist so überfüllt, daß ich nicht zusteigen kann. Mal taucht ein Polizist auf, vor dem ich wegen meiner Nacktheit große Angst habe, mal sind in der Menschenmenge Hunde, die mich anbellen und nach mir schnappen.
     

Polizeimeister Kaspar
    Irgendwann im Sommer 1933 kam Polizeimeister Kaspar vom 4. Polizeirevier in unsere Wohnung. Das war nichts Ungewöhnliches, denn wir wohnten schon viele Jahre in der Kaiserhofstraße und kannten den Polizeimeister gut. Er kam öfters, wie das früher üblich war, in dienstlicher Eigenschaft in die Wohnungen seines Reviers, wenn ein Bescheid zugestellt, ein Formular ausgefüllt oder etwas unterschrieben werden mußte. In der Regel blieb er dabei auf dem Treppenflur stehen, doch diesmal ging er mit Mama in das vordere Zimmer, das wir an den jüdischen Vertreter vermietet hatten, der die meiste Zeit nicht zu Hause war. Sie schlossen die Tür hinter sich und flüsterten so leise miteinander, daß ich nichts verstehen konnte. Als Kaspar dann ging, war Mama sehr aufgeregt.
    Erst viel später erfuhr ich, was er meiner Mutter so geheimnisvoll mitgeteilt hatte. Die Staatspolizei habe alle Einwohnermeldeämter, das waren die Polizeireviere, angewiesen, eine Liste der Personen zusammenzustellen, deren Religion in der Einwohnerkartei mit »mosaisch« angegeben sei. Damit wollte man auch noch die letzten Juden erfassen, die in Frankfurt lebten und nicht der Israelitischen Gemeinde angehörten. Der Polizeimeister mußte also gewußt haben, vielleicht hatte es ihm Mama einmal erzählt, daß sie und Papa schon Vorjahren aus der Gemeinde ausgetreten waren.
    Noch ahnte niemand, sogar Polizeimeister Kaspar nicht, trotz seiner großen Besorgnis, daß die Anfertigung dieser Judenlisten, in die später, nach dem Inkrafttreten der Rassengesetze, auch alle »Halb-« und »Vierteljuden« aufgenommen wurden, erste vorbereitende Maßnahmen für die »Endlösung der Judenfrage« waren.
    Nachdem Kaspar das mit der Judenliste Mama berichtet hatte, fragte er, ob wir die Absicht hätten, in nächster Zeit Deutschland zu verlassen. Mama verneinte das mit der plausiblen Erklärung, daß man dazu ja Geld brauche.
     
    In diesen ersten Jahren der Hitlerherrschaft emigrierten, sieht man von den politisch Verfolgten ab, meist nur wohlhabende Juden, die nicht nur genügend Geld hatten, um einen Umzug ins Ausland finanzieren zu können, sondern darüber hinaus die notwendigen Mittel zum Aufbau einer neuen Existenz.
    Zu denen, die beizeiten Deutschland verlassen konnten, gehörte auch die Familie des Metzgermeisters Emil Soostmann, unseres Hausbesitzers. Sie machten ihre Habe, soweit das noch ging, zu Geld und emigrierten nach Frankreich, Herr und Frau Soostmann und ihre drei erwachsenen Kinder.
    Ein halbes Jahr später kam der älteste Sohn, der achtundzwanzigjährige Kurt, heimlich und für uns alle überraschend nach Frankfurt zurück. Er wollte nur kurze Zeit hierbleiben. Der Grund für seine Rückkehr war, daß man bei dem überstürzten Aufbruch nach Frankreich ein Safe bei einer Frankfurter Bank, in dem sich Aktien und andere Wertpapiere befanden, regelrecht vergessen hatte. Kurt Soostmann wurde noch in der Bank verhaftet. Die Staatspolizei hatte

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