Kaiserhof Strasse 12
Plötzlich war lautes Geschrei auf den Gängen, Türen wurden aufgerissen und von allen Seiten drängten SA-Leute in den Eßsaal. Einer postierte sich breitbeinig im Mittelgang und rief: »Jeder bleibt auf seinem Platz! Ausweiskontrolle!« Die SA-Männer gingen durch die Bankreihen und an der Menschenschlange vor dem Ausgabeschalter entlang und prüften sorgfältig Ausweis für Ausweis.
Als Papa an der Reihe war, hielt er dem SA-Mann seinen Fremdenpaß hin. Der blätterte ihn auf, stutzte, schaute Papa an, blätterte noch einmal nach hinten, klappte den Paß zu und steckte ihn in die Tasche. Er müsse den Paß überprüfen lassen, sagte er. Wenn er in Ordnung sei, könne mein Vater ihn in den nächsten Tagen auf dem Polizeirevier wieder abholen. Offenbar hatten »staatenlos« und »Fremdenpaß« den SA-Mann irritiert, und er war mißtrauisch geworden.
Der SA-Trupp zog endlich ab. Mehrere Juden, die keine Ausweispapiere bei sich hatten, wurden mitgenommen. Zu Hause erzählte Papa nichts von der Razzia, erst recht nichts davon, daß der SA-Mann seinen Paß einbehalten hatte. Er befürchtete, Mama könne sich zu sehr aufregen, da ihr Herz schon sehr krank war. Sie hatte oft genug gesagt, wir sollten endlich damit aufhören, das Essen zu holen, es werde von Monat zu Monat gefährlicher, sich in der Jüdischen Fürsorge blicken zu lassen. Aber Papa zögerte. Er machte einen Zwanzigminutenmarsch, um einen Laib Brot zwei Pfennige billiger zu kaufen, und eilte jeden Abend wenige Minuten vor Ladenschluß in die Gemüseabteilung vom Kaufhaus Tietz an der Hauptwache, weil dann die leicht verderbliche Ware im Preis herabgesetzt wurde. Für ihn waren die zwei Portionen Essen aus der Jüdischen Fürsorgeküche, von denen seine fünfköpfige Familie satt wurde, eine notwendige Entlastung des Arbeitslosenhaushalts.
Doch sehr schnell sollte Mama erfahren, was sich in der Jüdischen Fürsorge abgespielt hatte. Am anderen Tag gegen Abend schellte es an der Wohnungstür. Mama ging öffnen. Polizeimeister Kaspar, zornig, wie ich ihn noch nie erlebt hatte, stand in der Tür und fragte schroff: »Kann ich Sie einen Augenblick sprechen, Frau Senger?« Mama bat ihn herein.
Er war schrecklich wütend, vergaß jegliche Vorsicht und wurde so laut, daß Papa, Paula und ich hinter der Verbindungstür des angrenzenden Zimmers jedes Wort verstehen konnten. Wir seien wohl wahnsinnig geworden, schimpfte er. Was wir denn bei der Jüdischen Fürsorge noch verloren hätten? Ob wir so ahnungslos oder nur dumm seien. Ob wir nicht wüßten, was die Stunde geschlagen habe. Er wurde etwas ruhiger. Wenn wir schon so unvernünftig seien, uns selbst in Gefahr zu bringen wegen eines lumpigen Tellers Suppe, ob wir nicht daran dächten, daß wir auch ihn in den Schlamassel mit hineinziehen würden. Von Rücksichtslosigkeit sprach er noch und davon, daß wir das Vertrauen derer mißbrauchen würden, die es gut mit uns meinten.
Mit bleichen Gesichtern lauschten Paula und ich an der Verbindungstür. Papa ging im Zimmer auf und ab und knetete vor Erregung mit einer Hand die andere. Polizeimeister Kaspar berichtete nun meiner Mutter, einige Stunden zuvor sei von der Staatspolizeistelle in Frankfurt Papas Paß ins Revier geschickt worden mit der Anweisung, den Paßinhaber zu überprüfen und, falls irgendetwas in den Papieren nicht in Ordnung sei, sofort Meldung zu machen. Es sei reiner Zufall gewesen, sagte er, daß ausgerechnet er den Paß von dem Boten erhielt, weil der Reviervorsteher gerade außer Haus war und er ihn vertrat. »Was haben Sie dazu zu sagen?« wollte Kaspar wissen. Aber Mama hatte nichts zu sagen. »Können Sie sich vorstellen, was passiert wäre, wenn ein anderer den Paß in die Finger bekommen hätte?« Mama schwieg. »Ich hoffe nur, keiner meiner Kollegen hat bemerkt, daß ich den Paß verschwinden ließ«, fuhr Kaspar fort. »Hier, nehmen Sie ihn!« Dann ging er.
Seit dem Tag verzichtete Papa darauf, das Mittagessen bei der Jüdischen Fürsorge zu holen - von nun an schickte er meinen Bruder Alex. Dieses Verhalten scheint an Wahnwitz zu grenzen, und ich bin außerstande zu sagen, wer dafür verantwortlich war, Mama oder Papa oder beide zusammen, ich weiß nur, daß Papa erzählte, bei der Razzia seien ausschließlich die Erwachsenen, nicht aber die Kinder kontrolliert worden, und darum ließen sie noch mehrere Wochen lang den zwölfjährigen Alex das Essen holen.
Und doch ist diese unverständliche Leichtfertigkeit meiner Eltern, die
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