Kaiserhof Strasse 12
Mißachtung oder Verkennung der tödlichen Gefahr nicht außergewöhnlich. Kurt Soostmann wurde sie zum Verhängnis und vielen anderen Juden und auch dem Börsenmakler Oppenheimer aus Nummer 19 in unserer Straße. Er wohnte später in der Uhlandstraße, hielt Hitler für einen großen Staatsmann und weigerte sich bis zu seinem Abtransport in ein Vernichtungslager, Deutschland zu verlassen, obwohl Freunde es ihm dringend rieten.
Ein Wunder ist's, Mama, daß wir aus dem Schlamassel herauskamen, und sicherlich ist es zum Teil deinem Reschel (: kluger Kopf ) zu verdanken, denn du allein hast dir ausgedacht, wie man Behörden und Nachbarn, Lehrer und Ärzte und wen sonst noch alles hinters Licht führt - aber eben nur zum Teil, darüber hinaus auch einer gesunden Portion Masel (: Glück). Ich höre schon, wie du fragst, die Handflächen in der den Juden eigenen Weise umwendend: »Was ist schon Masel, Walja?« Recht hast du, Mama, was ist schon Masel? Ich weiß es nicht. Aber wir überlebten. Und je mehr ich in meiner Erinnerung herumkrame, um so erstaunter bin ich darüber, daß Papa überlebt hat, daß ich noch lebe und daß Paula noch lebt. Und ich frage mich, ob es das wirklich gibt, daß in einem einzigen Leben so viele Zufälle Platz haben?
»Haben wir nicht schon genug Zores?«
Mit Lappalien fing es an, zum Beispiel mit zwei Ohrfeigen, die ich von Doktor Runzheimer bekam, dem strammen Nazilehrer, der, kaum war Hitler an der Macht, nur noch in SA-Uniform und wadenhohen Schnürstiefeln in die Schule kam. Er hatte in der Klasse ein Merkblatt verteilt, daß die NSDAP offizielle Staatspartei sei und die Schüler sich ihr und der Hitler-Regierung gegenüber loyal verhalten sollten.
Der Schüler Helmut Blumenstock zerknüllte das Blatt und schob es unter die Schulbank, aber so, daß es Runzheimer nicht merkte. Ich dagegen glaubte, es meiner politischen Haltung schuldig zu sein, das Blatt vor der ganzen Klasse zu zerreißen, an die Tafel zu gehen, wo der Papierkorb stand, und die Schnipsel dort hineinzuwerfen.
Runzheimer brüllte los und schlug mir mit aller Kraft ins Gesicht, einmal, zweimal. Dann mußte ich zu Rektor Beyer gehen und ihm meine Schandtat melden. Der, ein ehemaliger Offizier und Deutschnationaler mit Vatermörder und Stehhaarschnitt, schrie mich fast genauso an, aber er schlug nicht. Ich bekam einen schriftlichen Verweis, und Mama wurde zum Klassenlehrer Arz bestellt. Dieser hatte sich in der nächsten Unterrichtsstunde nur stumm vor mich gestellt und vorwurfsvoll den Kopf geschüttelt, als wolle er sagen: Junge, mach mir doch mit solchen dummen Geschichten keine Scherereien!
Das Schlimmste aber kam zu Hause. Mama schüttelte die Fäuste, jammerte und schimpfte und wollte nicht aufhören. »Du Idiott!« Sie sprach es in ihrem russisch-jüdischen Tonfall mit zwei T. »Du Idiott! Bringst noch die ganze Familie ins Unglück. Was sollte das mit dem Papier? Willst du den Helden spielen, die Hitlers allein erledigen? Haben wir nicht schon genug Zores?«
Von nun an versuchte ich keine derartige Demonstration mehr in der Schule. Ich verlegte mich darauf, an den Litfaßsäulen und Zäunen Hitlerplakate zu beschädigen, bis ich auch dazu die Lust verlor. Hätte ich damals bereits gewußt, wie gefährlich das ist, würde ich es gelassen haben, denn besonders mutig war ich nicht.
Ich hätte mich beispielsweise nie allein an Erich Hügel, den Obernazi unserer Klasse, herangetraut, obwohl ich bestimmt Sieger geblieben wäre. Er war der Sohn eines selbständigen Malermeisters und Altparteigenossen und brachte schon vor 1933 die Hitlerparolen gegen Juden, Marxisten und Novemberverbrecher mit in die Schule. Er war, wie sein Alter, fanatisiert, und wenn er wegen seiner Nazisprüche einmal eine geschmiert bekam, schrie er sie noch lauter. Dabei war er ein Wichtigtuer und ein Muttersöhnchen, und ich hätte mir nichts sehnlicher gewünscht, als ihn einmal richtig zu verhauen. Aber nur dann, wenn ihn Blumenstock oder der starke Kreiling im Schwitzkasten hatten, schlug ich auch mal drauf.
In dieser Zeit, es mag Mai oder Juni 1933 gewesen sein, hatte ich ein Erlebnis mit einem marschierenden SA-Trupp, das mir Entsetzen einjagte. Ich kam von der Schule. Unmittelbar hinter dem Bahnhof, am Postamt, hörte ich den Gesang einer Marschkolonne. Ich blieb stehen. Ein Trupp von hundert oder hundertfünfzig Uniformierten, die Sturmriemen ihrer SA-Mützen unters Kinn gespannt, kam die Straße entlang, in der ich stand. Als
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