Kaiserhof Strasse 12
Händen standen einige Feuerwehrleute herum, aber sie bekämpften nicht den Brand, sondern löschten nur die auf die Straße stürzenden Balken. Sie hatten offensichtlich Anweisung, die Synagoge ausbrennen zu lassen und nur das Übergreifen des Feuers auf die Häuser der Nachbarschaft zu verhindern.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich da stand und in die Flammen starrte. Ein Gefühl überwältigte mich, wie ich es bisher nicht gekannt hatte: auch ich war einer von denen, die da gequält und geschunden wurden. Noch nie war es mir so deutlich ins Bewußtsein gedrungen, daß ich zu ihnen gehörte. Es waren meine Brüder und Schwestern, denen man die Scheiben zertrümmerte, die Wohnungen demolierte, die Geschäfte zerschlug, die Gotteshäuser zerstörte, die Thorarollen schändete und denen man Schlimmes an Leib und Leben antat. Ihr Schicksal war mein Schicksal, auch ich war einer aus dem auserwählten Volk, gewiß keiner der tapfersten und edelsten, keiner der bekenntnisfreudigsten - aber aus der Tatsache selbst konnte ich mich nicht herauslügen. Ich wollte es auch nicht in diesem Augenblick.
Ich empfand keinen Haß auf die neugierig glotzende Menschenmenge um mich herum, obwohl ich wußte, daß bei den meisten von ihnen die brennende Synagoge keine Erschütterung auslöste. Es war für sie ein Schauspiel, bei dem man für kurze Zeit eine Gänsehaut bekam. Ich war unendlich traurig und dachte, jetzt müßte wer laut das Sch'ma Jisrael (: »Höre, Israel!«, die ersten Worte des Glaubensbekenntnisses der Juden vom einzigen Gott.) beten als letztes Bekenntnis vor dem Untergang. Und plötzlich hörte ich ganz deutlich die Stimme Papas. Er sang das alte, bittere, jiddisch-revolutionäre Lied, das er hin und wieder zu Hause sang, allein oder auch zusammen mit Mama, und das ich bis auf den heutigen Tag nicht mehr singen hörte, es scheint, daß es verschollen ist:
Hulet, hulet, bejse Windn
jetz is aier Zait,
lang wet doieren der Winter,
Summer is noch wait.
Raisst die Loden fun die Fenster,
Schaiben brecht arois,
brennt a Lichtl ergets Finster,
lescht mit Zorn es ois.
Jogt de Vejgl fun die Weider,
wait vertraibt sej fort,
die wos kennen nit mehr fliehen,
toit sain oif dem Ort.
(Stürmet, stürmet, böse Winde,
jetzt ist eure Zeit,
lang wird dieser Winter dauern,
Sommer ist noch weit.
Reißt die Läden von den Fenstern,
Scheiben brecht heraus,
brennt ein Licht noch wo im Dunkeln,
löscht mit Zorn es aus.
Jagt die Vögel aus den Wäldern,
weit vertreibt sie fort,
denn die nicht mehr fliehen können,
bleiben tot am Ort.)
Ich sah nichts als die Flammen und den Rauch, obwohl viele hundert neugierige Menschen um mich herumstanden, und in meinen Ohren klang, als stünde er dicht neben mir, Papas leise, traurige Stimme: »Hulet, hulet, bejse Windn.« Ich hätte mich nur umdrehen müssen, um ihn zu sehen, so nahe war er mir. Und in meinem Kopf zitterte der Refrain mit: »Lang wet doieren der Winter, Summer is noch wait.« Ich weinte, die Tränen rannen mir die Backen hinunter, und es war mir gleichgültig, ob mich jemand beobachtete.
Langsam ging ich zurück ins Büro. Niemand fragte mich, wo ich gewesen war. Eine halbe Stunde später kam der Hitlerjunge. Sein Gesicht und seine Hände waren verdreckt.
»Was gibt's Neues?« wurde er gefragt.
»Was es Neues gibt? Ihr wißt hoffentlich schon alles«, antwortete er.
Aber dann erzählte er doch von seinem Einsatz. Bereits am Abend hatte ihn sein Fähnleinführer vorgewarnt, daß in der Nacht etwas fällig sei, er solle sich für einen Einsatz bereit halten. Um drei Uhr in der Frühe holte man ihn aus dem Bett, und eine halbe Stunde später war er an dem Treffpunkt im Nordend. Die Hitlerjungen wurden hier in mehrere Gruppen eingeteilt, dann zogen sie in Richtung Innenstadt los. In den ihnen zugewiesenen Straßenzügen hatten sie systematisch die Schaufenster der jüdischen Geschäfte eingeschlagen und die Einrichtungen demoliert; danach drangen sie in Wohnungen von Juden ein, trieben sie auf die Straße, zerschlugen auch hier die Fensterscheiben und warfen anschließend das Mobiliar durch die Fenster auf die Straße.
Die Straßen waren übersät mit Glasscherben, was dem Pogrom dann den Namen »Kristallnacht« gegeben hat. Draußen wurden die aus den Wohnungen hinausgejagten Menschen von der SA in Empfang genommen und abgeführt.
Der Hitlerjunge schloß seinen Bericht mit der Bemerkung: »Einem haben wir den Bart und die Pajes
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