Kaiserhof Strasse 12
Darmkrankheiten« den Namen Dr. Kurt Hanf-Dreßler. Mama erinnerte sich, daß auch Frau Volk aus dem Vorderhaus zu ihm ging und ihn gelobt hatte. Seine Praxis war nicht weit von uns entfernt, am Blittersdorfplatz.
Der Abschied, den mir meine Familie bereitete, als ich mich auf den Weg zum Arzt machte, war wie bei einer Trennung für immer. Diese fünfzehn Minuten die Mainzer Landstraße hinauf wurden zu einem schweren Gang. Ich hatte Herzklopfen - aber keine Magenschmerzen mehr. Sie waren wie weggeblasen, das erste Mal seit vielen Tagen. Ich überlegte, ob ich umkehren solle, aber ich wußte genau, die Schmerzen würden wiederkommen. Also ging ich weiter.
Im Wartezimmer des Arztes saßen etwa zwanzig Personen gelangweilt herum und blätterten in Zeitungen und Zeitschriften. Ich war ein wenig erleichtert, denn ich konnte mir ausrechnen, daß ich noch mindestens zwei Stunden oder auch drei bis zur Untersuchung haben würde. Mir war noch eine Frist gegeben. Meine Magenbeschwerden waren inzwischen tatsächlich weg. Viel zu schnell hintereinander wurden die Patienten aufgerufen. Nun saßen nur noch fünf vor mir. Die Tür öffnete sich und statt der Sprechstundenhilfe stand der Arzt selbst im Türrahmen, um den nächsten Kranken hereinzubitten. Unter dem weißen Kittel trug er eine braune Uniform, offenbar eine von der SA. Am Hals erkannte man das Braunhemd mit irgendwelchen Chargenspiegeln und an den Beinen über Breecheshosen braune Reitstiefel. - Später erfuhr ich, daß Dr. Hanf-Dreßler ein Führer in der Frankfurter Reiter-SA war.
Bei diesem Anblick kam mir nicht einmal mehr Mamas »Maseltow« in den Sinn. Verschwinden wäre das einzig Vernünftige gewesen. Noch war Zeit, niemand hätte mich aufgehalten.
Oft habe ich mich gefragt, warum ich in diesem Augenblick nicht gegangen bin. Ich blieb im Wartezimmer sitzen mit den Magen- und Darmkranken, blätterte in alten, abgegriffenen Zeitschriften, hörte den SA-Doktor im Nebenzimmer hantieren und sprechen, zählte die Patienten, die noch vor mir waren, jetzt noch drei, noch zwei - und wartete, bis ich aufgerufen wurde.
Und dann saß ich auf dem Stuhl vor ihm, zwischen uns der Schreibtisch, und erzählte ihm, welche Beschwerden ich hatte. Doktor Hanf-Dreßler hörte, so schien es mir, uninteressiert hin, machte sich noch irgendwo einige Notizen, verstaute eine Karteikarte in der Schublade und sagte: »Nun machen Sie mal den Oberkörper frei und legen Sie sich dort auf die Liege.« Ich tat, wie mir geheißen.
Er beugte sich über mich, und ich sah nichts weiter als die beiden Chargenspiegel auf dem braunen Hemd mit den silbernen Sternen drauf, gefältelte Knopfaugen einer bösen Fratze.
Seine Finger drückten hier und dort auf den Bauch und ertasteten zwischen den Rippen das Zentrum der Schmerzen. Dann drückte er den unteren Bauch ab. »Tut's hier auch weh?«
»Nein.«
»Hier?«
»Nein.«
»Öffnen Sie mal die Hose.«
Während ich noch zögernd an den Knöpfen herumnestelte, zog er mir die Hose, wie er es wohl oft machte, nach unten. »Nanu, was ist denn das?«
»Was meinen Sie?«
»Sind Sie beschnitten?«
»Nein - doch.«
»Was heißt das: nein, doch?«
Stotternd begann ich meine Geschichte von den Skopzen, deren Schuldbewußtsein um die Erbsünde so weit ging, daß sie sich selbst entmannten, und daß mich darum meine Eltern hätten beschneiden lassen.
Ich weiß nicht, wie weit ich gekommen war, als er mich ärgerlich anfuhr: »Erzählen Sie mir keinen solchen Blödsinn. Sie sind doch in Frankfurt geboren. Wer hat den Schnitt gemacht?«
»Ich wurde in einem Krankenhaus beschnitten.«
»Wenn das von einem Arzt in einem Krankenhaus gemacht worden wäre, dann sähe das ganz anders aus. Haben Sie daran schon einmal gedacht, wenn Sie solche Geschichten erzählen?«
»Ja, aber Sie können mir glauben -«
Scharf unterbrach mich Dr. Hanf-Dreßler: »Jetzt hören Sie endlich auf mit dem dummen Zeug! Passen Sie genau auf, was ich Ihnen sage: Jeder Arzt, nicht nur ich, erkennt das einwandfrei als rituellen Schnitt eines jüdischen Beschneiders.« Und nach einer ganzen Weile: »Solche Geschichten lassen Sie mal in Zukunft.« Dabei tastete er mich immer weiter ab. »Haben Sie hier Schmerzen?«
»Nein.«
»Und hier?«
»Nein.«
Er zog mir mit einem Ruck die Hose wieder hoch, richtete sich auf, ging ans Waschbecken, wusch sich die Hände und sagte: »Sie können sich wieder anziehen. Ihre Magenbeschwerden scheinen nervöser Natur zu sein. Möglicherweise
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